Die Läden heißen „Entrümpelung”, „Wohnungsauflösung” oder „Umzugsservice”. Sie sind die Weddinger Variante der Pop Up-Stores. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass es bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Die modernen Trödler sind Erstbesiedler, Zwischennutzer und illusionslose Resteverwerter. Sie haben nichts mehr mit den Läden der schrulligen Antiquitätenhändler und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Was die Wohnungsauflöser heute verkaufen, ist der Spiegel eines Generationenwechsels, der langsam hinter Weddinger Wohnungstüren stattfindet.
„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind, oder ins Pflegeheim gegangen sind.”, sagt Yasim, Verkäufer im Sammel-Surium, einem großen Trödelladen, der vor zwei Jahren an der nördlichen Müllerstraße, gleich neben dem BVG-Busdepot in den ehemaligen Räumen einer Druckerei eröffnet hat. Er gehört, wie so viele Trödelläden, zu einem Entsorgungsunternehmen, der Baerliner Sperrmüll Recycling, die ihr Geld mit Wohnungsauflösungen und Renovierungen verdient. „Wenn wir kommen, haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.” Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlangen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.
Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss. Es müsse schnell gehen und gründlich sein, aber die Hinterlassenschaft eines ganzen Lebens müsse auch mit Respekt behandelt werden, sagt Yasim pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die keiner mehr haben will. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen”, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies”. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren.
„Verwahrlosung”, nennt Stephan, Inhaber des Mini-Kaufhauses in der Amsterdamer‑, Ecke Malplaquetstraße diese Entwicklung. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Das Mini-Kaufhaus ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den guten, alten Dingen. 1987 wurde es von Stefans Eltern gegründet. Es hat sich immer durch die besonders hohe Qualität der angebotenen Fundstücke ausgezeichnet: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in der liebevoll gestalteten Auslage zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand. Das lief über Inserate in der Zweiten Hand.” Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr”, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben und die handbesticken Leinenhandtücher der Aussteuer seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kann man ihn nicht mehr verkaufen.” Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.
„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen”, brummt der robuste Händler weiter, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.” Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!” zurückgekehrt. Aber auch das läuft nicht mehr.
Aus all diesen Gründen ist im Mini-Kaufhaus zu Ende Januar Schluss. Gerade läuft der Ausverkauf mit Preisen, die bis zu 50 Prozent reduziert sind. „Das Geschäft geht weiter”, sagt Stephan zuversichtlich, “aber nicht mehr im Laden.”
Höchste Zeit also, um einen Trödel-Streifzug durch den Wedding zu machen, solange es noch zwischen dem Wohlstandsmüll und dem Elektroschrott, dem Plüsch und dem Kitsch die ein oder andere Überraschung zu finden gibt.
Hier zwei Tourenvorschläge:
Tour 1: Ausgangspunkt ist der große Flohmarkt mit gebrauchten Haushaltsgegenständen, der jeden Samstag auf dem Leopoldplatz stattfindet. Wer dort noch nicht all sein Geld für Dinge ausgegeben hat, von denen er noch nie wusste, dass er sie braucht, kann über die Nazarethkirchstraße am Leo entlang in Richtung Maxstraße bummeln. In der Nummer 44 fängt mit „Nazareth-Umzüge” die Reihe der gut sortierten Trödelläden an, die sich bis zur Nummer 38 zieht. Weiter geht es in die Maxstraße und dort nach 100 Metern wieder links in die Utrechter Straße wo sich gleich am Anfang in der Nummer 45–48 drei weitere Läden finden. Weiter geht es zur Utrechter 24. Dort lädt die „Fundgrube 24″ zum Stöbern ein.
Tour 2: Die Tour startet am U‑Bahnhof-Seestraße. Dort gibt es in der Müllerstraße 138c (neben der alten Lackfabrik) den Eingang zum Flohmarkt „Die 2″, der sich über zwei Hinterhöfe erstreckt. Weiter geht es die Müllerstraße hoch, Richtung Kurt-Schumacher-Platz. Auf der rechten Seite ist der Trödel „Müller 52″. Auf der gleichen Straßenseite in die Barfusstraße einbiegen. Dort, in der Nummer 19, findet ihr einen Laden, der sich auf gebrauchte TV- und Videogeräte spezialisiert hat. Gleich daneben, in der Nummer 21, findet ihr „Biggis Fundgrube”, die vergangenes Jahr ihr 16-jähiges Bestehen feierte. Auf der anderen Seite der Müllerstraße, etwa auf gleicher Höhe gibt es an der Ecke Kameruner- Cornelius-Fredericks-Straße „Burkhard’s Wohnungsauflösungen”, der vor allem Möbel im Angebot hat . Ein gutes Stück weiter oben, in der Müllerstraße 79a ist der große Laden von „Sammel-Surium”. Und noch weiter nördlich, in der Nähe U‑Kurt-Schumacher-Platz, hat im Hinterhof der Auguste-Viktoria-Allee 99 die Berliner Stadtreinigung ihr Gebrauchtwarenkaufhaus „Noch Mall” eingerichtet.