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Anerkennung, Aberkennung:
Als Juden 1933 das Robert Koch-Institut verlassen mussten

Ganz still steht es seit über 120 Jahren am Nordufer: das rote Backsteingebäude des Robert Koch-Instituts. Zur Straße bilden zwei kurze Flügel einen offenen Hof und erhabenen Eingang, der heute mit moderner Kunst an die Zeit des Nationalsozialismus und die einstigen jüdischen Mitarbeitenden erinnert. Welche jüdischen Forscher:innen wirkten hier?

Haupt­ein­gang Robert Koch-Insti­tut, Foto: Ben­ja­min Kuntz

In der Ödnis des Weddings

Inner­halb weni­ger Jah­re, von Herbst 1897 bis Som­mer 1900, ent­stand die zunächst als König­lich Preu­ßi­sches Insti­tut für Infek­ti­ons­krank­hei­ten bezeich­ne­te Ein­rich­tung unter Lei­tung von Dr. Robert Koch am Nord­ufer. Gegrün­det 1891, hat­te es zuvor ein Gebäu­de in der Nähe der Cha­ri­té als pro­vi­so­ri­schen Insti­tuts­stand­ort. Der Weg in die Gegend des neu­en Hau­ses war sehr beschwer­lich, denn kaum aus­ge­bau­te Stra­ßen und teil­wei­se noch höl­zer­ne Brü­cken bzw. der wei­te Fuß­weg vom Bahn­hof Wed­ding oder Put­litz­stra­ße (heu­te West­ha­fen) lie­ßen die Dyna­mik der Mil­lio­nen­stadt ver­ges­sen. Auf dem drei­ecki­gen Grund­stück Nord­ufer, Föh­rer Stra­ße und Buch­stra­ße ent­stand dem Was­ser zuge­wandt das Haupt­ge­bäu­de über einen H‑förmigen Grund­riss nach den Plä­nen von Hans Röse­ner und dahin­ter Neben- und Stall­ge­bäu­de. Es war eine rei­ne For­schungs­ein­rich­tung und ers­te Auf­nah­me­stel­le mit Zugang von der Föh­rer Stra­ße, bei den Ber­li­nern damals bekannt als “Wut­schutz­sta­ti­on”, so das Ber­li­ner Tage­blatt am 8.3.1912. 

In den neu­en Räum­lich­kei­ten gab es einen gro­ßen Hör­saal und Labor­räu­me für bak­te­rio­lo­gi­sche und che­mi­sche For­schung sowie Tier­ver­su­che. Alle Ergeb­nis­se wur­den fein säu­ber­lich doku­men­tiert und es gab Mikro­fo­to­gra­fie sowie im Dach­ge­schoss ein foto­gra­fi­sches Ate­lier. In den ers­ten Jah­ren fan­den die Ergeb­nis­se zur Toll­wut-Imp­fung Erwäh­nung in der Pres­se. Als 1906 das vier­te städ­ti­sche Kran­ken­haus im Wed­ding eröff­ne­te – das Virch­ow-Kran­ken­haus – erhielt das Insti­tut für Infek­ti­ons­krank­hei­ten eige­ne Behandlungspavillons.

Gebäu­de­an­sicht aus dem Zen­tral­blatt der Bau­ver­wal­tung, 1905.

Eine Frau geht ihren Weg: Lydia Rabinowitsch-Kempner

Die ers­te Wis­sen­schaft­le­rin an der Sei­te von Robert Koch war Lydia Rabi­no­witsch-Kemp­ner (1871−1935). Nach ihrer in der Schweiz absol­vier­ten Pro­mo­ti­on (1894) mit der Arbeit: “Bei­trä­ge zur Ent­wick­lungs­ge­schich­te der Frucht­kör­per eini­ger Gas­tro­myce­ten” begann sie im Herbst/Winter 1894 bei Robert Koch ihre For­schun­gen über ther­mo­phi­le Bak­te­ri­en. Schnell mach­te sie eine wis­sen­schaft­li­che Kar­rie­re in Ber­lin und den USA. In den nächs­ten Jah­ren beschäf­tig­te sie sich mit der Über­tra­gung von Tuber­ku­lo­se durch Milch und Milch­pro­duk­te. Koch selbst gehör­te zu den Kory­phä­en auf dem Gebiet der Tuber­ku­lo­se. 1903 kam es zum Bruch mit Robert Koch und sie wech­sel­te zu Johan­nes Orth an das Patho­lo­gi­sche Insti­tut der Cha­ri­té. Im Jahr 1912 war sie die ers­te Frau in Ber­lin (die zwei­te in Preu­ßen), die mit einem Pro­fes­so­ren­ti­tel geehrt wur­de. In den fol­gen­den Jah­ren blieb Tuber­ku­lo­se ihr Haupt­the­ma. Nach zahl­rei­chen Aus­zeich­nun­gen, Ehren­ti­teln und Mit­glied­schaf­ten wur­de sie 1934 auf Grund­la­ge der neu­en Gesetz­ge­bung zur “Wie­der­her­stel­lung des Berufs­be­am­ten­tums” aus dem Kran­ken­haus Moa­bit ent­las­sen, des­sen bak­te­rio­lo­gi­sches Labor sie seit 1920 gelei­tet hatte.

Georg Blu­men­thal mit Mit­ar­bei­te­rin im Labor des RKI (Quel­le: Kat­ja Uhlig)

Jüdi­sche Mitarbeiter:innen am Robert Koch-Institut

Robert Koch starb am 27. Mai 1910, bis 1904 hat­te er “sei­nem” Insti­tut als Direk­tor vor­ge­stan­den. Die öffent­li­che Bezeich­nung der Insti­tu­ti­on erhielt am 24. März 1912 den Namens­zu­satz Robert Koch, wäh­rend die Pres­se bereits 1908 vom Robert Koch-Insti­tut sprach. Es begann eine wech­sel­vol­le Zeit. Denn unter den zahl­rei­chen For­schern gab es immer auch jüdi­sche Wis­sen­schaft­ler, die ab 1933 unter den neu­en Geset­zen aus dem Insti­tut gedrängt wur­den. Dies waren: Georg Blu­men­thal (1888−1964), Lies­beth Len­ne­berg (1904−1976), Fritz Kauff­mann (1899−1978), Alfred Cohn (1890−1965), Ulrich Frie­de­mann (1877−1949), Hans Mun­ter (1895−1935), Lucie Adels­ber­ger (1895−1971), Wer­ner Sil­ber­stein (1899−2001), Hans Loe­wen­thal (1899−1986), Roch­la Eting­er-Tul­c­zyns­ka (1902−1990), Wal­ter Levin­th­al (1886−1963) und Lud­wig Klee­berg (1890−1964). Zu den wohl her­aus­ra­gends­ten For­schern gehör­te Wal­ter Levin­th­al, der wäh­rend sei­ner Zeit am RKI die Ursa­che für die Papa­gei­en­krank­heit ent­deck­te und dafür 1931 den Paul-Ehr­lich-Preis erhielt. Bis auf Hans Mun­ter, der 1935 an einem Magen­ge­schwür ver­starb, über­leb­ten alle For­scher den Holo­caust und konn­ten ihre Arbeit in der Regel im Aus­land fort­set­zen. Ledig­lich Georg Blu­men­thal kehr­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg nach Ber­lin und ans Insti­tut zurück.

Mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me 1933 und der Wie­der­her­stel­lung des Berufs­be­am­ten­tums muss­te das Robert Koch-Insti­tut sämt­li­che jüdi­schen Mit­ar­bei­ter aus dem Dienst ent­las­sen. So kam es, dass im Früh­jahr zwölf For­scher ihre Arbeit am RKI auf­ge­ben muss­ten. “Die Fol­gen der Ent­las­sungs­wel­le waren erheb­lich: Mit einem Schlag wur­de dem Insti­tut fast der gesam­te aka­de­mi­sche Mit­tel­bau und damit der mut­maß­li­che Füh­rungs­nach­wuchs genom­men”, so die Medi­zin­his­to­ri­ke­rin Annet­te Hinz-Wessels. 

Lucie Adels­ber­ger (Bild­quel­le: Archiv Edu­ard Seidler/Benjamin Kuntz)

Lucie Adels­ber­ger: Ärz­tin in der Ora­ni­en­bur­ger Vor­stadt und am RKI

Frau­en und Medi­zin, das war zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts kein Wider­spruch mehr. Zu die­sen moder­nen Frau­en in weiß gehör­te auch die aus Nürn­berg stam­men­de Lucie Adels­ber­ger. Sie kam 1921 nach Ber­lin, eröff­ne­te 1925 in der Chaus­see­stra­ße 63 eine eige­ne Pra­xis und forsch­te ab Novem­ber 1927 am Robert Koch-Insti­tut. In ihrer Pra­xis als Inter­nis­tin und Kin­der­ärz­tin lag der Fokus auf all­er­gi­schen Erkran­kun­gen. Zum The­ma der Über­emp­find­lich­keit sprach Adels­ber­ger im März 1938 vor der jüdi­schen Ärz­te­schaft, so die Cen­tral-Ver­ein-Zei­tung am 24. März 1938. Dar­in führ­te Adels­ber­ger ihre Erkennt­nis­se des Zusam­men­hangs zwi­schen bestimm­ten Reiz­stof­fen und der Reak­ti­on bei Magen, Gal­len, Herz und Gelen­ken aus. Die mög­li­che Behand­lung die­ser Pro­ble­me wur­de von Adels­ber­ger erläu­tert. Auch am RKI forsch­te sie bis 1933 zu Über­emp­find­lich­keits­re­ak­tio­nen. Trotz Stel­len­an­ge­bo­ten im Aus­land und der Ent­zie­hung der Appro­ba­ti­on blieb Lucie Adels­ber­ger in Deutsch­land, um ihre kran­ke Mut­ter zu ver­sor­gen. Sie wur­de 1943 nach Ausch­witz depor­tiert, über­leb­te die furcht­ba­ren KZ-Jah­re und emi­grier­te 1946 in die USA, wo sie in der Krebs­for­schung ein neu­es For­schungs­ge­biet fand.

Die Erin­ne­rung wachhalten

Erin­ne­rungs­zei­chen vor dem Eingang

Erst 2006 setz­te sich eine Grup­pe von Medi­zin­his­to­ri­ke­rin­nen mit der Geschich­te des RKIs zwi­schen 1933 und 1945 kri­tisch aus­ein­an­der. Aus den gewon­ne­nen Erkennt­nis­sen ent­stand auch der Wunsch nach einem Denk­mal. Seit 2011 ist für jeden Fuß­gän­ger das Erin­ne­rungs­zei­chen “Mit offe­nen Augen” am Haupt­ein­gang bzw. Nord­ufer zugäng­lich. Es stammt von der Künst­le­rin Hei­ke Pon­witz und besteht aus drei Glas­s­te­len am Haupt­ein­gang sowie künst­le­risch in Sze­ne gesetz­ten Augen­paa­ren im Foy­er. Die drei Glas­s­te­len, im Som­mer umge­ben von weiß blü­hen­den Rosen, zei­gen den Insti­tuts­na­men, das kreis­run­de Bild einer Men­schen­men­ge, das an einen „Erd­ball im Fokus eines Mikro­skops” den­ken lässt, wie es die Künst­le­rin for­mu­lier­te, und his­to­ri­sche Infor­ma­tio­nen zur Rol­le des Insti­tuts in der NS-Zeit. „Man sieht nur, was man weiß”, die­ser Leit­satz mahnt an unse­re Fähig­keit als Men­schen unse­re Umwelt zu hin­ter­fra­gen und das Unsicht­ba­re sicht­bar zu machen, auch wenn es schmerzt, ver­letzt und erschüttert.

Alle 12 Bio­gra­phien kön­nen in einem Online-Pod­cast gehört wer­den. Hier geht‘s zum Pod­cast

Quel­len:

Muse­um im Robert-Koch-Insti­tut (Hrsg.): Erin­ne­rungs­zei­chen, Im Geden­ken an die zwölf jüdi­schen Mit­ar­bei­ten­den, die 1933 das Robert Koch-Insti­tut ver­las­sen muss­ten, Ber­lin 2022.

Kuntz, Ben­ja­min: Lucie Adels­ber­ger, Ärz­tin, Wis­sen­schaft­le­rin, Chro­nis­tin von Ausch­witz, Ber­lin 2020.

Graff­mann-Wesch­ke, Katha­ri­na und Kuntz, Ben­ja­min: Lydia Rabi­no­witsch-Kemp­ner, Bak­te­rio­lo­gin, Tuber­ku­lo­se­for­sche­rin, Ber­lins ers­te Pro­fes­so­rin, Ber­lin 2022.

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

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