Im nördlichen Brunnenviertel, zwischen Hussitenstraße und Strelitzer Straße, liegt ein verstecktes Relikt des sozialen Wohnungsbaus um 1900: die Reste der einst imposanten Wohnanlage „Versöhnungs-Privatstraße“. Wer heute an der Adresse Hussitenstraße 4/5 vorbeigeht, ahnt kaum, welch ambitioniertes Bauprojekt sich hier vor über 120 Jahren verwirklichte – und wie wenig davon die Zeit überdauert hat.
Genossenschaftlich, christlich, kaisertreu – und visionär


Die Wohnanlage wurde vom Vaterländischen Bauverein e.G. errichtet, einer genossenschaftlichen Initiative, die christlich geprägt war und den Anspruch hatte, die Wohnverhältnisse der städtischen Bevölkerung zu verbessern – nicht zuletzt durch eine „Versöhnung“ der sozialen Schichten. Der Bauverein wollte mehr als nur Wohnungen schaffen: Es ging um eine neue Art des Zusammenlebens.


1903 begannen die Bauarbeiten, 1904 war die Anlage bereits fertig. Architekt und Dombaumeister Ernst Schwartzkopff entwarf in Sichtweite der Versöhnungskirche sechs Höfe, die durch eine private Erschließungsstraße miteinander verbunden waren. Das städtebauliche Konzept mit begrünten Innenhöfen galt damals als vorbildlich – ein Kontrast zu den dunklen Hinterhöfen der üblichen Mietskasernen.
Geschichte in Stein gemeißelt


Die Gestaltung der Höfe war nicht zufällig: Jeder von ihnen sollte ein Stück Berliner (Bau-)Geschichte repräsentieren. Wandbilder, Statuen und architektonische Details erzählten eine Art "Predigt in Steinen" – vom Mittelalter bis ins wilhelminische Kaiserreich:
- Hof I: Romanischer Hof (12. Jh.), mit der Statue des hl. Petrus (noch erhalten)
- Hof II: Altmärkischer Hof, erinnert an Berlin im 14./15. Jh., mit Backsteingotik
- Hof III: Nürnberger Hof mit Elisabethgarten, Fachwerk und Erker à la 16. Jh.
- Hof IV: Renaissancehof, mit Bezügen zum 17. Jh.
- Hof V: Barockhof, königliche Residenzstadt (abgerissen)
- Hof VI: Moderner Hof mit Wilhelmsgarten, Kaiserstadt der Gründerjahre (abgerissen)
Fortschrittlich bis ins Detail


Die Wohnungen – insgesamt 208 plus 43 Einzelzimmer – verfügten über damals moderne Annehmlichkeiten: Innen-WC, Küche, Vorratskammer, Balkon oder Loggia. Zusätzlich gab es eine Badeanstalt, Bibliothek, Kindergarten, Gemeinschaftsräume, einen Spielplatz – und sogar ein Hospiz. Auch an alleinstehende Frauen wurde gedacht, für sie waren spezielle Einzelzimmer vorgesehen.
Zerstörung und Verstümmelung
Im Zweiten Weltkrieg wurde ein Teil der Anlage beschädigt, später dann in vereinfachter Form wieder aufgebaut. Doch in den 1970er- und 1980er-Jahren folgte eine radikale Sanierung: Vorderhäuser, Seitengebäude, Barockhof und Moderner Hof wurden abgerissen, viele der historischen Fassadenelemente entfernt.
Heute steht der verbliebene Rest unter Denkmalschutz. Doch nur wenige Elemente erinnern noch an das ursprüngliche Konzept: Der östliche Flügel des Romanischen Hofs mit seiner Statue, Teile des Altmärkischen und Nürnberger Hofs – mehr ist nicht geblieben.


Fotos: Sulamith Sallmann
Fazit
Die Versöhnungs-Privatstraße ist ein fast vergessenes Stück Weddinger Baugeschichte – ein Ort, an dem sich frühe Reformideen, soziale Ambitionen und architektonischer Anspruch auf bemerkenswerte Weise vereinten. Auch wenn heute nur noch ein Bruchteil der Anlage steht, bleibt sie ein eindrucksvolles Beispiel für den sozialen Wohnungsbau um 1900 – und ein Denkmal mit Botschaft.
💡 Tipp für Entdecker:innen: Ein Spaziergang durch die verbliebenen Höfe lohnt sich – wer genau hinsieht, entdeckt zwischen Erkern und Giebelfeldern Spuren einer Wohnutopie, die einst Wirklichkeit war.

Wenn ich den interessanten Artikel richtig verstehe, geschah die hauptsächliche Zerstörung durch die Genossenschaft ‚Vaterländischer Bauverein e. G.‘ selber:
„in den 1970er- und 1980er-Jahren folgte eine radikale Sanierung: Vorderhäuser, Seitengebäude, Barockhof und Moderner Hof wurden abgerissen, viele der historischen Fassadenelemente entfernt.“
Die Genossenschaft will von ihrer eigenen Geschichte nichts mehr wissen? Dieser Eindruck drängt sich mir auf, und vielleicht ist sie nicht die einzige?!
Bereits in der Nacht zum 8.Oktober 1940 fielen erstmalig Bomben auf die Häuser der Wohnanlage in der Hussitenstraße. Die Schäden, optimistisch wie man seinerzeit noch war, konnten kurzfristig mit italienischen Fremdarbeiter behoben werden. Bereits geschildert, die nächtlichen Großangriffe der RAF im Zuge der „Big Week“. Erwähnenswert, neben kleineren Zerstörungen, bleibt der Tagesangriff am 6. Mai 1944 durch Bomber der 8. USAAF. Die Aufgänge 1 der Geschäftsstelle und 4 wurden total, die Aufgänge 5 und 6 teilweise zerstört. Im März 1945 wurde die Häuser Hussitenstr. 4/5 sowie der Aufgang 10 durch eine Luftmine vollständig auf Erdgleiche gebracht. Der Kampf um Berlin kurz vor Endsieg forderten durch Granatbeschuß noch weiteres an Bausubstanz. Erst die Währungsreform ermöglichte den Kauf von Baustoffen und die Entlohnung von Fachkräften, vorher konzentrierte man sich auf die Trümmerbeseitigung, oft in Eigenleistung der verbliebenen Mieter. Die Häuser 1 und 4 sowie die Hussitenstr. 4/5 waren wegen Einsturzgefahr oder vollständiger Zerstörung nicht mehr zu retten. Häuser 6 und 3 der Wohnanlage in der Versöhnungsprivatstraße ließen sich notdürftig instand setzen, die imposanten Stuckarbeiten und Zierformen blieben allerdings für immer verloren. Haus 11 und dem Nürnberger Hof widmete man sich mit besonderer Sorgfalt. Soweit noch zu ermitteln, erfolgte der Abriß von Teilen des Ensembles Mitte bis Ende der sechziger Jahre im Rahmen eines Deals mit der Senatsbauverwaltung, der neben dem Neubau aufgelockerter Wohnanlagen mit viel Luft, Licht und Grün, den Abriß wertvoller und völlig intakter Teile der Altbauanlage Hussitenstraße/Strelitzer Straße vorsah. Summa summarum wurden dort 5 Häuser Opfer des Bombenkrieges, später noch weitere 7 ½ Häuser Opfer der Sanierungspolitik, Der klägliche Rest wurde später unter Denkmalschutz gestellt, was viele Genossenschaftsmitglieder auch heute noch als blanken Hohn empfinden.
Das Leid der Berliner Bevölkerung in Folge der Bombenangriffe ist erschütternd – aber wir dürfen nicht vergessen, warum dieser Krieg überhaupt geführt wurde. Deutschland begann ihn, und von Berlin aus wurde die Ermordung von Millionen organisiert. Über 55.000 Jüdinnen und Juden allein aus Berlin wurden entrechtet, deportiert und getötet. Auch ihr Leid gehört zur Geschichte dieser Stadt.
Zur Zerstörung des Ensembles: Die hauptsächlichen Zerstörungen der Gebäude verbunden mit dem Tod unzähliger Zivilisten in der Versöhnungs-Privatstraße, der Hussitenstraße bis hinunter zur Stralsunder Straße fanden während der vom British Bomber Command so genannten „Big Week“ statt, insbesondere in der Nacht vom 22.11./23.11.1943. In den Berichten der Hauptluftschutzstelle Berlin finden sich dazu (hier nur sehr verkürzt zitiert) folgende Aufzeichnungen. „…Bericht der Hauptluftschutzstelle Berlin datiert vom 1.12.1943 über den 152. – 157. Fliegeralarm im Zeitraum vom 22.11. – 26.11.1943: 6.000 Gefallene, 20.000 Verwundete, 400.000 Obdachlose. Total zerstört wurden 104.613 Wohnungen……Fliegeralarme in der Nacht vom 22. zum 23.11.1943: 19.30 – 21.12 Uhr und 22.09 – 22.30 Uhr, Anzahl der eingesetzten Flugzeuge der RAF: 670, davon 25 Totalverluste, Abwurfmunition: 1.132 t Sprengbomben und 1.331 t Brandbomben.“
Die Anzahl der Luftkriegstoten unter der Berliner Bevölkerung während der gesamten Dauer des Krieges schwanken zwischen 30.000 und 49.000.