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Der Musensohn des Wedding: Jonny Liesegang

7. August 2015
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Eingang Afrikanische Str. 146c
Ein­gang Afri­ka­ni­sche Str. 146

Möch­te man des Wed­dings Kern und Wesen ergrün­den, so begeg­net man auf sei­ner Rei­se zu den his­to­ri­schen Quel­len unwei­ger­lich zwei Din­gen. Zum einen dem Mythos des roten Wed­dings sowie zum ande­ren dem Wed­din­ger  Mund­art­dich­ter Jon­ny Lie­se­gang. Von letz­te­rem, fast ver­ges­se­nen Musen­sohn des Wed­dings han­delt die­ser Artikel.

»Sehn’se, det is Berlin«

Der soge­nann­te Rote Wed­ding. Es ist die Geschich­te eines Bezirks sowie des­sen auf­müp­fi­gem Arbei­ter­mi­lieus, auf das man sich auch heu­te noch all­zu ger­ne beruft. Es ist eine Geschich­te von den Schat­ten­sei­ten einer Indus­tria­li­sie­rung und dem poli­ti­schem Wider­stand der 1920er bis 1940er Jah­re. Um es kurz zu hal­ten sei an die­ser Stel­le dem Zuge­zo­ge­nen wie dem »inna- und außahalb­schen Ber­li­na« die Schrift zum The­ma »Wider­stand im Arbei­ter­be­zirk« von Hans-Rai­ner Sand­voß sowie der Abschnitt Indus­trie­ge­schich­te »Vom Wed­ding in alle Welt« in: »Der Wed­ding. Auf dem Weg von Rot nach Bunt« von Ger­hild H. M. Koman­der empfohlen.

Möch­te man die Men­schen, die wäh­rend der indus­tri­el­len Umwäl­zung in Milieu und Miets­ka­ser­ne ihr Dasein fris­te­ten, bes­ser ken­nen ler­nen, dann wird man in der Büche­rei (Schil­ler-Biblio­thek oder Biblio­thek am Lui­sen­bad) unwei­ger­lich auf die leicht schnodd­rig illus­trier­ten Bücher des Mund­art­dich­ters Jon­ny Lie­se­gang sto­ßen. Und um genau den soll es hier gehen.

Bür­ger­lich als Johan­nes Haa­sis 1897 gebo­ren, nimmt er 1933 nach ergan­ge­nem Arbeits­ver­bot und Ver­haf­tung durch NSDAP-Anhän­ger den Namen sei­ner Ehe­frau an und fir­miert fort­an als Jon­ny Lie­se­gang. Wie schwer Kiez und Milieu von der poli­ti­schen Groß­wet­ter­la­ge zu tren­nen sind, das erkennt man auch dar­an, daß Lie­se­gang selbst als Mund­art­dich­ter unter natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft gezwun­gen war, teils ille­gal als Schrift­stel­ler und Illus­tra­tor zu agie­ren, bevor er 1943 schluss­end­lich zum Wehr­dienst ein­ge­zo­gen wurde.

Zum Mythos des roten Wed­dings kann man ste­hen wie man will. Am Bei­spiel Lie­se­gangs kann man gut beob­ach­ten, wie bis heu­te der Wed­ding ohne sei­ne poli­ti­sche Geschich­te im Grun­de nicht zu den­ken – sie gehört wie »det ‘Roll’ zum ‘Mops’«.

»Mein Wedding«

Afrikanische Ecke Seestr.
Afri­ka­ni­sche Ecke Seestr.

Text­aus­zug aus »Dei­ne Sor­jen uff ne Stulle«:

“Nu schtell dir bloß vor, wir wohn­ten an de Bahn! Janz abje­sehn von den Krach, Tach und Nacht det Jer­ump­le von die Züje… var­rickt würd’ ick jlatt bei wer’n. Und du siehst ja, jenau kann man die Leu­te rin kie­ken! Kiek bloß! […] Und da – wat saachs­te dazu – da kämmt sich soja’ eene de Haa­re! An’t off’ne Fen­s­ta! Und in’t Hem­de noch dazu!!” Er riß die Augen auf und rief:“Wo kämmt sich eene in’t Hem­de?” Sie stutz­te. Miß­trau­isch sah sie ihren Mann an und:“Natierlich! Dir braucht man bloß wat von een frem­det Hem­de zu azähl’n! Da recks­te jleich’n Hals wie’n Jän­se­rich! Val­leicht fährs­te noch mal zerick? Denn siehs­te die Per­son noch!”

Jon­ny Lie­se­gang wird auch der Musen­sohn des Wed­dings genannt. Eines Wed­dings viel­leicht, der längst schon unter­ge­gan­gen scheint. Damals, »als der Wed­ding aus vie­len, vie­len Miets­ka­ser­nen zusam­men­ge­setzt ist, deren jede ein­zel­ne ‘een Dorf is, wo eena den andan bes­sa kennt.. als der Betref­fen­de sich selba’.«

Vor allem die heu­te noch in eini­gen Anti­qua­ria­ten erhält­li­chen Bän­de der Jah­re 1938–1941 sei­en dem Suchen­den nah ans Herz gelegt. »Det fiel mir uff!«, »Det fiel mir och noch uff!« sowie »Die Feld­post­brie­fe der Fami­lie Pie­sel­mann« und »Da liegt Musi­ke drin«. Nach Ende des Zwei­ten Welt­kriegs ver­öf­fent­licht Lie­se­gang noch min­des­tens ein wei­te­res Werk: »Det fiel mir trotz­dem uff!«, bevor er 1961 im Wed­ding ver­stirbt. Hin­ter­las­sen hat er Geschich­ten mit so schö­nen Titeln wie »Der Jeburts­tags-Aal«, »Der ver­hex­te Wal­di« oder »Mut­ter Schlab­bes Weihnachten«.

Eine Stadt wie Ber­lin ist immer in Bewe­gung. »Nu ja, Se wis­sen ja wie’t so is!« Was aber wür­de Jon­ny Lie­se­gang zum Wed­ding heu­te sagen? Wür­de er ihn ohne sei­ne Stra­ßen­händ­ler und ohne Pfer­de­kut­scher über­haupt wie­der­erken­nen? Wür­de er bedau­ern, dass das Evan­ge­li­sche Anti­qua­ri­at auf der Mül­lerstra­ße nach 112 Jah­ren (sic!) schließt (Update: Um kurz danach wie­der­zu­er­öff­nen). Wür­de er für sei­ne humo­ris­ti­schen All­tags­be­ob­ach­tun­gen noch immer det ver­wen­den wie er es sei­ner­zeit getan hat oder wür­de er das moder­ne dit auf­grei­fen? So wie’s an der Kreu­zung Afri­ka­ni­sche Ecke See­stra­ße in gro­ßen, bun­ten Let­tern geklebt zu lesen ist: »Ick steh uff Wed­ding, dit ist meen Ding«? Die gro­ßen bun­ten Let­ter an der Kreu­zung wur­den zwi­schen­zeit­lich geän­dert: aus dem det wurd’ das aktu­ell gekleb­te dit. Oder wür­de er sagen, dit und det, dies und das, dass sei­en doch eh zwei völ­lig ver­schie­de­ne Din­ge! »Sowat Duß­li­jet, ick könnt’ ma uffreje!«

Spuren im Kiez

An des Dich­ters ehe­ma­li­gem Wohn­sitz Pank­stra­ße 79 im Gesund­brun­nen erin­nert heu­te nichts mehr an ihn. Sei­ne letz­te Adres­se hin­ge­gen, eine Erd­ge­schoss­woh­nung mit­ten im Afri­ka­ni­schen Vier­tel gele­gen, ziert seit sei­nem 20. Todes­tag, dem 30.3.1981 eine klei­ne Gedenk­ta­fel. Ansons­ten drängt sich der Ein­druck auf, dass man ihn im heu­ti­gen Wed­ding fast ver­ges­sen habe. Kei­ne Lie­se­gang-Stu­be in sei­nen gelieb­ten Reh­ber­gen, kein Lie­se­gang-Aus­flugs­damp­fer auf der Spree und auch kein Lie­se­gang-Muse­um. Keins im Wed­ding und auch nicht anders­wo. Das ehe­ma­li­ge “Lie­se­gang” an der Ecke Mal­plaquet­stra­ße heißt zwi­schen­zeit­lich »Wei­ne & Geflü­gel« und steht mitt­ler­wei­le wie­der leer. Eine Lie­se­gang-Wei­ße gab’s dort aber auch nicht zu bestel­len. Mit etwas Glück macht jemand auf der Lese­büh­ne dem Publi­kum mal den Lie­se­gang. Ansons­ten, wer an Ber­li­ner Mund­art inter­es­siert ist, der wird zuerst wohl Hein­rich Zil­le und dem Mill­jö auf sei­ner Quel­len­su­che begeg­nen. Oder viel­leicht den bei­den lus­ti­gen Lemkes.

Gedenktafel Jonny Liesegang
Gedenk­ta­fel Jon­ny Liesegang

»Det fiel mir auf / Jon­ny Lie­se­gang / Zum Geden­ken an den / Hei­mat­schrift­stel­ler / der hier gewohnt hat / 6.10.1897 – 30.03.1961«

Jon­ny Lie­se­gangs Adres­se heu­te ist ein Ehren­grab Ecke Mül­lerstra­ße, auf dem Urnen­fried­hof See­stra­ße. Auf der Über­sichts­kar­te am Ein­gang liest man sei­nen Namen indes nicht. Die Lis­te der Ehren­grä­ber liegt lieb­los im Glas­kas­ten, und schlim­mer, sie liegt halb ver­deckt. Wer das Grab besu­chen möch­te, dem sei gesagt: der mitt­ler­wei­le teils ver­wit­ter­te Grab­stein befin­det sich in Abtei­lung II. Man ori­en­tie­re sich am Denk­mal für die Opfer des Auf­stands vom 17. Juni 1953, denn ganz in des­sen Nähe wird man zwangs­läu­fig auch das Reli­ef des Künst­lers auf des­sen Grab­stein ent­de­cken. Den dazu­ge­hö­ri­gen, als ordent­lich zu bezeich­nen­den Kanin­chen­bau dane­ben gibt’s als Gra­tis­bei­ga­be dazu.

Denkmal für die Opfer des 17. Juni und Ehrengrab Liesegang
Links: Denk­mal für die Opfer des 17. Juni / Rechts: Ehren­grab Jon­ny Liesegang

(Alle Zita­te aus: Lie­se­gang, Det fiel mir och noch uff! Schnaf­te Geschich­ten und duf­te Bil­der, 1977)

5 Comments

  1. Ich fin­de gut, dass der Jon­ny Lie­se­gang wie­der aus­ge­gra­ben wur­de und heu­te im Mas­tul um 21:00 Uhr zu hören ist. Mit dem
    ( West – ) Ber­li­nern ist das so eine Sache und das sagt eine Insu­la­nern. Auch wenn dett nich so rich­tich klappt, öff­ne man(n), ja auch de Wei­ba, dett Her­ze und die Lau­scher. Ich wur­de mich über wei­te­re Ver­su­che dem Ber­li­ner auf die Schnau­ze und ins Her­ze zu schau­en freuen.

  2. […] ein Wed­din­ger Mund­art-Dich­ter, der von 1897 bis 1961 leb­te. In dem tol­len Wed­ding­wei­ser-Arti­kel „Der Musen­sohn des Wed­ding: Jon­ny Lies­gang“ geht Weber dem Dich­ter und sei­nen Leben im Wed­ding nach. Und allein schon der schö­nen Buchtitel […]

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