André Zachau ist vom Kino-Virus infiziert. Er ist im Wedding aufgewachsen, an der Ecke Müller- und Seestraße. Genau dort, wo das Alhambra und das Schiller-Kino waren. Jede freie Minute hat er da verbracht. Und bald hat es ihn auch etwas weiter nach Norden gezogen, unweit des U-Bahnhofs Rehberge, wo sich das Kino der Franzosen im Centre culturel befand.
„Ich bin als Steppke mit dem Rad die Müllerstraße hochgefahren, und da sah ich den Schaukasten.“ Er meint den, wo die Filme angekündigt wurden, und fand heraus, dass im Kino der Franzosen, dem heutigen City Kino Wedding, donnerstags zwei Filme mit deutscher Synchronisation gezeigt wurden. „Auf die Altersbeschränkungen hat hier niemand geachtet“, erinnert sich Zachau. So konnte er alle James Bond-Filme nachholen.
Für Zachau, 1970 geboren, war der Kiez an der Müllerstraße Revier. Seine Mutter hat im Bezirksamt gearbeitet, die Familie hatte einen Kleingarten in den Rehbergen. Zachau ist also jemand, den man mit Fug und Recht als Weddinger Urgestein bezeichnen kann.
Im Kino im Centre Culturel arbeitete Heinz, „ein Ex-Kollege meiner Mutter. Er führte hier Filme vor.“ Er zeigte Zachau den Vorführraum, Projektoren, Spulen, Kabel – das war aber nicht so das Ding - Zachau kannte die Technik schon aus dem Alhambra . Aber Heinz hat ihm auch ein Stück Film mitgegeben. „Man sagt ja, wenn du einmal mit dem Material in Verbindung gekommen bist, kommst du nicht mehr los.“
Im City Kino hat er übrigens von Götz George einmal ein Autogramm bekommen. Das kam so: „Ich habe meine Mutter mit elf zu einer Kur in der Lüneburger Heide begleitet. Da habe ich mich mit einer netten älteren Dame unterhalten und meine Mutter sagte, das ist Berta Drews, die Mutter von Götz George.“ André kannte die alten Filme mit Berta Drews und Heinrich George aus dem DDR-Fernsehen. Der Zufall wollte es, dass es ein Jahr später einen Theaterabend mit Götz George im Saal des Centre culturel français gab. „Ich war ja Schimanski-Fan und musste da natürlich hin. Frau Drews erkannte mich. Und nach der Vorstellung kam Götz George zu mir und ich bekam ein Autogramm.“ Später fand André heraus, dass George Stammgast im Alhambra war: „Er kam da immer hin und hat sich neue Filme angeschaut.“
Nach der Schule machte Zachau sein Hobby nicht zum Hauoptberuf. Er machte eine Ausbildung bei der BfA, der Rentenversicherung, wo er bis heute arbeitet. Das hielt ihn nicht davon ab, im Kino zu jobben, Deutschlands größte Filmbörse zu gründen und sich unzählige Filme in großen Kinos und kleinen Programmkinos anzuschauen. Sein erster Nebenjob war natürlich im Alhambra. Von 1990 bis 2002 war Zachau Ersatz-Filmvorführer und er war gut mit dem damaligen Betreiber Leo Wegenstein bekannt. Die Wegensteins waren die „Kino-Zaren vom Wedding“. Neben dem Alhambra und dem Schiller-Kino hatten sie auch noch das Neue Alhambra und den Kristallpalast in der Badstraße betrieben. Das Humboldtkino hatte sogar eine Wasserorgel – aneinandergereihte Fontänen, die sich zur Musik bewegen.Alle Kinos hatten nur einen Saal, auch das 1953 nach Kriegszerstörungen neu gebaute „alte“ Alhambra. Es war zugelassen auf knappe 900 Sitzplätze. Diese wurde aber wegen der GEMA-Gebühren nicht voll bespielt. Der Rang war oft geschlossen, und auf dem Parkett verblieben 300 Plätze.
Dass Zachau gleich um die Ecke wohnte, war von Vorteil: „Wenn der Filmvorführer verschlafen hatte, genügte ein Anruf und ich konnte vorbeikommen.“ Wie Filmvorführen geht, hatte er sich durchs Zuschauen selbst beigebracht: kleine Rollen für Trailer und Werbung, große Rollen, auf die nur eine Stunde Material passten, und die deshalb geschickt mit der nächsten Rolle auf dem zweiten Projektor überblendet werden mussten. An der Treppe im City Kino stehen noch drei alte Projektoren, und Zachau würde am liebsten noch einmal einen Film einspannen und vorführen dürfen. Seit zehn Jahren hat auch das City Kino auf digitale Technik umgestellt – Zelluloid gibt es hier genauso wenig wie in anderen Kinos.
1999 wurde das Alhambra abgerissen und durch das heutige Multiplex-Kino mit acht Leinwänden und 1.500 Plätzen ersetzt. Als Ausweichstandort während der Bauarbeiten wurde der Saal im Ernst-Reuter-Haus am Sparrplatz angemietet; zeitweise befand sich dort das sogenannte Alhambra Too. Heute ist dort das Eschenbräu, eine Hausbrauerei.
Ohnehin war Ende des Jahrhunderts nicht mehr viel übrig von der üppigen Kinolandschaft im Wedding. Das Schiller-Kino wurde schon Anfang der 80er Jahre geschlossen. Nur das Alhambra, das heutige City Kino Wedding und das Sputnik in der Reinickendorfer Straße gab es noch. „Zu Mauerzeiten war eben alles am Kudamm, Kudamm, Kudamm“, sagt Zachau, „erst nach Monaten haben die Bezirkskinos angesagte Film gekriegt.“ Die ufa-Kinos hatten große wirtschaftliche Macht. „Die haben diktiert, was wo zu laufen hatte.“ Und das sei eben am Kudamm gewesen.
Doch ein Film lief fast nur im Wedding – und das bis heute. „Wedding“ heißt er, wie sonst. Es war der letzte Film, der im Spätsommer 1989 an der Berliner Mauer gedreht wurde. „Die Geschichte passt super: Drei alte Klassenfreunde treffen sich mehr oder minder zufällig nach Jahren wieder.“ Die Szene an der Mauer Ecke Bernauer Straße/Brunnenstraße mit dem Schild „Fin du secteur francais“ wurde bald darauf historisch. André lernte die Schauspieler kennen, als er eine Filmkritik über „Wedding“ schrieb: „Ich habe viel Zeit mit Harald Kempe, dem Hauptdarsteller verbracht, der hat mir so viel über die Dreharbeiten erzählt, als ob ich dabei gewesen wäre.“ Auf ein Interview mit dem damals unbekannten Nebendarsteller Heino Ferch hat André, sehr zu seinem Leidwesen, verzichtet.
Leo Wegenstein, dem das Alhambra gehörte, erfuhr 1990, dass der Verleih die Uraufführung in einem anderen Kino plante: „Ich bin das älteste Kino im Wedding, das geht nicht, wenn es schon einen Wedding-Film gibt, dann will ich den auch spielen!“, habe er gesagt. Und so kam es. Wegenstein richtete die Premierenfeier aus, und der Film lief sechs Monate lang mit drei Vorstellungen am Tag.
Der Film wäre fast in Vergessenheit geraten, wenn sich André nicht um eine Veröffentlichung von „Wedding“ auf DVD bemüht hätte. Er selbst besaß noch eine Kinokopie zu Hause, aber die konnte man nicht nehmen, weil sie aus Bayern kam. Dort hat man aus dem Film ein Schimpfwort herausgeschnitten. Da fehlt ein Wort, das man zwar nicht braucht, aber André fand das schade. „Deswegen haben wir geschaut, dass wir noch ein Master kriegen, das hatte Heiko Schier zum Glück bekommen.
Doch Andrés Sammelleidenschaft war ein Glücksfall. Der Film selbst war zwar gerettet. André hatte aber auch den Kinotrailer aufgehoben. Trailer wurden früher von Kinobetreibern auf den Müll geworfen. „Auch das Plakatmaterial, die Pressefotos, das einseitige Presseheft und das tip-Titelblatt hatte ich noch zu Hause.“ Die meisten Schauspieler seien heute in der Versenkung verschwunden – bis auf Heino Ferch. Hauptdarsteller Harald Kempe ist tot in seiner Wohnung aufgefunden worden.
Und auch wenn der Film auf DVD digitalisiert wurde: André findet, man muss den Film unbedingt im Kino sehen. Zum Glück wird er einmal im Monat im City Kino Wedding aufgeführt, und an der Fassade des Kinos hängt dann das Original-Plakat, auf dem die Darsteller unterschrieben haben. Inzwischen ist es ein wenig von der Sonne ausgeblichen.
Für unsere Leser:innen verlosen wir DVDs vom Film "Wedding", die uns André Zachau zur Verfügung gestellt hat. Schreibt eine Mail an [email protected], Betreff: "Wedding-DVD".