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Vom Trubel in die Vorstadt:
Koloniestraße: zwei Kilometer Weddinger Leben

Über Jahrhunderte hat die Koloniestraße den Wedding geprägt. Natürlich sind viele Veränderungen nicht spurlos an der Straße vorbeigegangen, es ist aber auch mehr erhalten geblieben als anderswo. Wir spazieren mit euch die etwa zwei Kilometer vom verkehrsumtosten Beginn der Straße, immer nahe der guten alten Panke, bis zur Bezirksgrenze an der Kühnemannstraße.

Die rasante Großstadtwerdung Berlins, zwei Weltkriege, Zerstörung und Mauerbau – all das hat Spuren hinterlassen an dieser Lebensader des Soldiner Kiezes. Doch eines hat sich in den letzten 200 Jahren kaum verändert: Die Straße hat – mehr als jede andere im Berliner Norden – ihren ursprünglichen Charakter bewahrt. Sie verbindet die dicht bebaute Innenstadt mit dem locker besiedelten Stadtrand.

Der frühere Sandweg, dessen Verlauf man anhand der häufigen Knicke bis heute nachempfinden kann, heißt seit etwa 1800 Koloniestraße. Das bezieht sich auf die Bauern, die hier Ende des 18. Jahrhunderts vom preußischen König Friedrich dem Großen in verschiedenen Kolonien angesiedelt wurden. Damals lag das öde Gebiet noch vor den Toren der Stadt und wurde durch die Kolonisten landwirtschaftlich genutzt.

Ab der Kaiserzeit geriet die Gegend zunehmend in den Sog der aufstrebenden Residenzstadt – allerdings nicht auf ihrer ganzen Länge. Je weiter man stadtauswärts geht, desto mehr unbebaute Flächen tun sich auf. Bemerkenswert ist auch die Vielzahl an Gewerbehöfen, die sich in den extrem langgezogenen, schmalen Grundstücken erhalten haben – ein Bild, das in der Innenstadt nur noch selten zu sehen ist. Der Straße ist noch heute anzumerken, dass sie nicht planmäßig angelegt wurde.

Ramponiert, aber grün

Das erste Teilstück der Koloniestraße ist nur 250 Meter lang und wirkt auf den ersten Blick wie jede andere Wohnstraße im Wedding. Sie beginnt an einer der städtebaulich interessantesten Kreuzungen Berlins: Kurz hinter der Badstraßenbrücke treffen Badstraße, Uferstraße, Exerzierstraße, Schwedenstraße und Koloniestraße im spitzen Winkel aufeinander. Die Gegend wurde im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit stark beschädigt. Altbauten gibt es heute nur noch auf der rechten Straßenseite – aber was für welche! Schon hier zeigt sich ein besonderes Merkmal dieser Straße: langgestreckte Hinterhöfe mit schlichten Zweckbauten.

Ein echtes Highlight ist der Remisenhof in der Hausnummer 10 – ein einzigartiges Ensemble aus dem 19. Jahrhundert. Er ist nicht nur aus stadtgeschichtlicher Sicht erhaltenswert, sondern auch wegen seiner Begrünung, die Vögeln Nistmöglichkeiten und dem Stadtklima Abkühlung bietet. Leider ist dieser überwiegend kulturell genutzte Hof, trotz aller Bemühungen der Mieter:innen, immer wieder vom Abriss bedroht.

Auf der Karte zeigt sich der unregelmäßige Verlauf des alten Weges (Quelle: opentopomap.org)

Quirliges, buntes Mittelstück

Hinter der Verkehrsschneise Osloer Straße, einer vielspurigen Ringstraße mit Straßenbahngleisen in der Mitte, teilt sich die Koloniestraße: Würde man geradeaus weitergehen, käme man in die Drontheimer Straße; als Koloniestraße geht sie mit einem leichten Knick nach Norden weiter.

Zwischen den Nummern 23 und 25 lohnt es sich, einen Abstecher hinter den Hausdurchgang zu wagen. Denn nach der Unterquerung des Hotels Big Mama kommt man ins Tal des Flusses Panke. Hier ist es ruhig, vorstädtisch und vor allem grün. Die sehr kleine Schrebergartenkolonie „Eintracht an der Panke“ liegt hier, als ob man sie dort vergessen hätte.

Es lohnt sich, vom Weg abzuweichen

Die nächsten 500 Meter, teils verkehrsberuhigt, zeigen das pralle Großstadtleben: Alt- und Gewerbebauten wechseln sich ab mit Sozialwohnungsbau der 70er und 80er Jahre. Ein kleiner Platz in der Mitte, gesäumt von Grünzug und zurückgesetzten Gebäuden, bildet so etwas wie das Herz des Kiezes.

Ein Seniorendomizil, eine Bäckerei, das Quartiersmanagementbüro und eine Moscheegemeinschaft stehen exemplarisch für die soziale und kulturelle Vielfalt, die diesen Teil des Weddings schon immer geprägt hat.

In der Hausnummer 29 lässt sich einer der typischen Höfe betreten. Graffitibesprühte Mauern trennen die schmalen Grundstücke voneinander, vereinzelt haben sich Hinterhäuser, frühere Remisen und Garagen erhalten. Am Ende dieses Hofs hat sich eine afrikanische Glaubensgemeinschaft niedergelassen. Abseits der Straße eröffnet sich hier eine kleine Weltreise – stets überraschend, selten romantisch. Die sichtbare Armut und der bauliche Zustand zeugen von Vernachlässigung und schwierigen Lebensverhältnissen.

Noch einmal Stadt, dann auf einmal nichts

An der Kreuzung mit der Soldiner Straße zeigt sich der Wedding klassisch: dichte Mietskasernen, ein Spielplatz und ein Mini-Park an der Nordwestecke. An der Hausnummer 116, einem der ältesten Gebäude der Straße, erinnern verblasste Inschriften an vergangene Zeiten.

Dann beginnt ein 900 Meter langer Abschnitt mit leichten Knicken, der die Innenstadt langsam hinter sich lässt. Auf der einen Seite Autowerkstätten, auf der anderen sanierte Altbauten – besonders schön an der Ecke Zechliner Straße, ein Beispiel für Mietskasernenarchitektur der Kaiserzeit.

Doch abrupt endet die Bebauung – hier ist sichtbar, wo der Bauboom des Ersten Weltkriegs ins Stocken geriet. Die Straße schlängelt sich nun durch ein unstrukturiertes, vorstädtisches Gebiet mit Kleingärten, Werkstätten und kleinen Betrieben. Lange Zeit prägte hier der Dönerhersteller Kaplan das Bild.

An der Hausnummer 95 fällt ein neues, orientalisch anmutendes Gebäude auf – ein Gewerbebau, der wie ein Palast wirkt und bislang unvollendet geblieben ist. Deplatziert – und doch typisch Koloniestraße: Wo sonst stört es kaum jemanden?

Gartenwege und das das älteste Haus

Kleine Tore geben immer wieder den Weg zu den Kleingärten frei – etwa an der Hausnummer 95 oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite am abfallenden Pankeufer.

Mittendrin, bei Hausnummer 57, steht das letzte erhaltene Kolonistenhaus, erbaut 1782. Das einstöckige Gebäude ist – auch wegen seiner isolierten Lage – das älteste Haus der Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen. Heute dient es dem Hausprojekt PinkePanke als Küche und Wohnzimmer.

Im Garten nebenan wachsen Walnussbäume, von denen erzählt wird, sie seien von einer Gastarbeiterfamilie aus ihrem türkischen Heimatgarten mitgebracht worden.

Noch einmal biegt die Koloniestraße ab. Unvermittelt stehen hier wieder hohe Mietskasernen – Relikte eines Bebauungsplans, der nie vollendet wurde. Sie wirken zwischen Gärten und Gewerbebauten wie vergessen.

Am Straßenknick zweigt der Fischhauser Weg ab – die kürzeste Straße des Weddings. Hier entstanden in den 1930er Jahren einige niedrige Reihenhäuser, die sich viel besser in die vorstädtische Umgebung einfügen.

Uninteressantes Ende am Bahndamm

An der Kühnemannstraße endet die Koloniestraße – gegenüber einem beeindruckenden Fabrikbau aus gelbem Backstein. Ein kurzes Stück führt sie noch als Verlängerte Koloniestraße weiter, doch die geplante Verbindung nach Reinickendorf wurde nie realisiert. Am Bahndamm der S-Bahn ist endgültig Schluss – nur ein Trampelpfad führt weiter Richtung Schönholz.

So unspektakulär wie ihr Anfang im Großstadttrubel ist auch ihr Ende: Zwei Kilometer Koloniestraße – und es fühlt sich an, als hätte man unterwegs gleich mehrere Länder und Städte durchquert.

Einkehren: Amaryllis Coffee, Koloniestr. 9, Hank Chinaski Koloniestr. 33

Fotos: Joachim Faust, Samuel Orsenne

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

2 Comments Leave a Reply

    • Ja, gern. Habe schon einige Spaziergänge durch den Wedding mitgemacht, auch an der Mühle vorbei. Wedding wird unterschätzt, hat versteckte Perlen. Habe selbst nur zwei Jahre am Leo gewohnt vor langer Zeit, aber diese Gegend dort hat sich sehr nachteilig verändert.

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