Geboren 1939 in der Martin-Opitz-Straße, aufgewachsen zwischen Bombenalarm, Trümmern und Neubauten – Jürgen Nest hat den Wedding erlebt, wie ihn heute kaum noch jemand kennt. Später wurde er Feuerwehrmann, stand mit dem Sprungtuch an der Bernauer Straße und organisiert bis heute den Wedding-Cup im Schillerpark mit. Ein Gespräch über Krieg, Wiederaufbau, Wohnungsnot und den Wandel seines Kiezes.
Jürgen Nest, geboren im Wedding, blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Kindheit im Krieg, Evakuierung nach Schlesien, Einschulung im Allgäu, Rückkehr in ein zerstörtes Berlin. Und dann: ein Leben für die Feuerwehr – mit dramatischen Einsätzen, auch an der Mauer. In einem langen Gespräch erzählt er, wie sich der Wedding verändert hat – und was geblieben ist.

Ich bin Jahrgang 1939, geboren im Wedding, aufgewachsen am Nettelbeckplatz. Ich erinnere mich noch gut, wie wir bei Bombenalarm in
von der Martin-Opitz-Straße über die schmale S-Bahn-Brücke zum Bunker im Humboldthain liefen. Später wurden wir ausgebombt und nach Schlesien evakuiert.
Als dann die Russen kamen, hat man uns weitergeschickt – ins Allgäu, zu einer Bauernfamilie. Dort wurde ich eingeschult. Das Kriegsende habe ich dort erlebt. Dort war eitel Sonnenschein, als würde es keinen Krieg geben,
aber wir lebten in einer Kammer in der Scheune. Meine Mutter half im Haus. Willkommen waren wir nicht. Die Bauernkinder waren wohlgenährt, wir waren dünn und hatten nicht immer genügend zu essen.
1946 kamen wir zurück nach Berlin. Es war nicht viel besser. Wir Kinder haben auf der Straße und in den Trümmern gespielt. In der Martin-Opitz-Straße war nur unser Haus von einer Bombe getroffen worden, aber rund um den Nettelbeckplatz war vieles kaputt. Ich kannte das gar nicht anders. Ich schätze, ab 1948 verschwanden die Trümmer, dann wurde viel gebaut.
Ich hatte trotzdem eine schöne Kindheit. Ich erinnere mich noch: Die Kinder der Ravenéstraße und der Gerichtstraße, die haben sich regelrecht bekämpft. Wir wohnten in der Mitte – in der Feuerwache. Mein Vater und mein Großvater waren Feuerwehrmänner, mein Vater war nicht eingezogen worden. Er holte uns zurück nach Berlin, wir wohnten erst in der Werkstatt der Wache, später in der Barfusstraße, Ecke Aroser Allee. Da war ich 14 Jahre alt und in dem Alter habe ich meine spätere Frau kennengelernt.
Später zogen wir in eine Neubauwohnung in der Gotthardstraße – Wohnungsmangel gab’s auch damals! Wir sind jede Woche zur Wohnungsbaugesellschaft gelaufen. Wir wollten zwei Kinder und brauchten 2½ Zimmer. Flüchtlinge aus Ost-Berlin und der DDR wurden bevorzugt. Eine Wohnung zu finden war nie leicht. Später zogen wir in die Londoner Str. und diese Mietwohnung wurde später zur Eigentumswohnung umgewandelt und die haben wir dann gekauft.
Die Ecke an der Holländerstraße war früher voller Lauben. Der Straßenbahnbetriebshof war das letzte feste Gebäude davor. Ich erinnere mich an viele Linien: die 28 und 29 nach Heiligensee bzw. Tegelort, die 35 aus nach Wilhelmsruh und die 68 nach Wittenau. Die U-Bahn endete an der Seestraße. Damals waren Straßenbahnen das Verkehrsmittel schlechthin. Als in Westberlin die Straßenbahn abgeschafft wurde, hatte man dafür BVG-Busse eingesetzt, die teilweise in der Rushhour, wie der Bus 16, im 5-Minutentakt fuhren.
Aber ich bin Gegner der Straßenbahn. Als Feuerwehrmann habe ich viele Unfälle gesehen. Wenn man unter eine Straßen- oder U-Bahn gerät, sind das oft tödliche Verletzungen. Ich habe Personen aus dem Fangnetz geholt – das vergisst man nicht.
Ich war auf der Ernst-Reuter-Oberschule, praktischer Zweig. Irgendwann wurde mir klar, ich muss mich schulisch anstrengen. Ich habe die Abendschule besucht, die Feuerwehrprüfung bestanden und bei der Feuerwehr angefangen. Meine Einstellungswache war die Feuerwache Schillerpark, später wurde ich auch in den anderen Wachen im Norden Berlins eingesetzt.



Die Ausstattung der Feuerwehren war nicht wie heute – damals hatten wir Sauerstoff--Schutzgeräte. Dabei wurde die eigene Ausatemluft gereinigt und wieder eingeatmet. Dadurch wurde die Atemluft mit der Zeit warm und das war nicht angenehm. Heute gibt’s Pressluftatmer, das ist ein himmelweiter Unterschied. Auch Spreizer, Schneidgeräte, Löschtechnik – alles hat sich weiter entwickelt. Früher waren manche Geräte auch schwerer und mit der Zeit werden andere leichtere Materialien und damit Geräte eingesetzt.
Ein Einsatz blieb mir besonders im Kopf: Ecke Müller-/Seestraße brannte eine Wohnung, da habe ich das erste Mal gesehen, dass es Wohnungen gab, wo die Toiletten auf dem Hof waren. So was kannte ich vorher nicht. Holztreppenhäuser sind übrigens gar nicht so schlecht – die brennen zwar, aber man hat mehr Zeit bzw. man kann besser einschätzen, wenn sie nicht mehr begehbar sind. Wenn hingegen Naturstein heiß wird, kann er aufbrechen bzw. platzen und das ist vorher kaum zu erkennen.

Ein einschneidendes Erlebnis war der Mauerbau. Am 12. August 1961 hatte ich Geburtstag. Meine Tante aus dem Prenzlauer Berg war auch noch da anwesend und sie wollte nachts wollte aber unbedingt noch nach Hause fahren und am nächsten Tag war die Mauer da. Wir hatten viel Familie im Osten. Später durften wir sie nur besuchen, wenn wir Zwangsumtausch zahlten. Ich habe nicht geglaubt, dass ich den Mauerfall noch erlebe. Mein Vater hat ihn ganz knapp noch mitbekommen, bevor er im Dezember 1989 starb.
Ich wusste früh, dass wir auf der „besseren Seite“ lebten. Auch wenn es überall Leute gibt, die nur an ihren Vorteil denken und es anders sehen. Natürlich bin ich oft über die Grenze ins übrige Bundesgebiet gereist, etwa zu Turnieren oder in den Urlaub. Irgendein Spion aus der Feuerwehr hat offenbar weitergegeben, welchen Dienstgrad ich hatte – die Grenzer wussten das immer, auch über Beförderungen usw. waren sie informiert.

Beim Mauerbau war ich als West-Feuerwehrmann im Einsatz: An der Bernauer Straße war die Lage besonders: Häuser im Osten, Straße im Westen. Die Menschen haben Zettel runtergeworfen, mit dem Zeitpunkt ihres geplanten Sprungs. Wir kamen dann mit dem Sprungtuch, hatte unsere Feuerwehrfahrzeuge möglichst unauffällig in der Nebenstraße geparkt und die Anfahrt ohne Blaulicht und Fanfare. Aus allen Stockwerken sprangen sie – auch vom Dach. Ab dem dritten Stock gab’s fast immer Brüche.
Das war kein Spaß: Manche trafen nicht die Mitte des Sprungtuchs, verletzten sich – auch Kollegen wurden getroffen. Wir waren alle sehr jung. Die älteren Feuerwehrleute fuhren nur noch die Fahrzeuge. Wir konnten die sogar damals sogar noch unabgeschlossen stehen lassen – da wurde nichts geklaut. Wir brachten die Leute dann ins Lazaruskrankenhaus, Jüdisches Krankenhaus, DRK-Klinikum oder ins Virchow.

Straßenkarten gab’s auf der Wache nicht. Wir mussten in der Straßenkunde alle Straßen kennen und abfahren. In den Häusern war der Aufbau oft gleich. Wir wussten, wie man sich im Rauch verhält – kriechen, nicht stehen. Psychologische Betreuung? Gab’s nicht. Wir haben Scherze gemacht, auch über Schlimmes – das war unsere Art, damit umzugehen.
Ich komme aus einer Feuerwehrfamilie: Mein Großvater, mein Vater, mein Bruder und ich – alle Feuerwehrleute. Unsere Kinder wollten das nicht mehr.
Die Ausbildung war ganz anders damals– Erste Hilfe, Verbände anlegen. Rettungssanitäter wurden wir erst durch Weiterbildungen. Es gab auf fast allen Feuerwachen vier Fahrzeuge und der Zugführer leitete die Einsätze.
Es gab bei vielen den Wunsch, auch mal Fahrzeug- oder Zuführer zu werden. Auf die erforderlichen Prüfungen bereitete man sich vor, weil bei größeren Einsätzen eine Führungskraft nötig ist.
Ich hatte auch einen schweren Dienstunfall am Zabel-Krüger-Damm – Blaulichtfahrt, ein Wagen kam von der Seite, da hast du keine Chance, unser Fahrzeug hat sich überschlagen. Heute ist noch mehr Verkehr. Viele machen keinen Platz für Rettungsfahrzeuge. Ich denke mir oft: Ihr könntet selbst mal Hilfe brauchen, was geht in eurem nur Kopf vor?

Ich war immer sportlich, habe zuerst geturnt, aber das passte nicht zu meinem Körperbau. Dann kam ich zum Faustball. Ich habe die Betriebssportgruppe bei der Feuerwehr aufgebaut, war bei Turnieren
sowie Deutschen Meisterschaften. Heute organisiere ich noch den Wedding-Cup im Schillerpark mit. Auch das Kinderturnen in der Sporthalle Ungarnstraße begleite ich noch für die Berliner Turnerschaft, meinen Verein, aber ich ziehe mich nach den großen Ferien 2025 zurück, weil die Belastung für mich doch zu groß wird.
Es ist nie zu spät, Neues zu akzeptieren, sich weiterzubilden und wenn möglich an Neuerungen mitzuwirken. Das ist mir in meinem Leben in bescheidenem Maße gelungen und ich werde auch weiterhin aktiv bleiben, denn „Wer rastet – der rostet“.
Joachim Faust hat die Erinnerungen von Jürgen Nest aufgeschrieben.

Meine Eltern sind auch beide Bomben-"Kellerkinder". Meine Mutter war im Alter von 7 Jahren mit ihrer Schulklasse aufs Land evakuiert wegen der Brände und weil dort eine Schulkantine eingerichtet war. Ihre Stadt Kassel brannte wegen der Fachwerkhäuser fast komplett ab.
Und heute bereitet Deutschland wieder einen Krieg gegen Russland vor. Das ist irre! Im Reichstag gibt es eine Inschrift russischer Soldaten von 1945: "Wir sind hier, damit ihr nicht mehr wiederkommt." Wann werden es die Deutschen endlich lernen?!