
Die Straßen im Wedding mögen laut oder leise, sauber oder dreckig sein: Sobald man die Haustür durchschreitet, betritt man eine andere Welt. Vor allem, wenn es noch einen oder zwei Hinterhöfe gibt. Oft gibt es richtige Tordurchfahrten, in denen - wenn man Glück hat - sogar noch die Führungsschienen für Fuhrwerke zu finden sind.

Wer den Innenhof der Gerichtstraße 45 betritt, ahnt auf den ersten Blick, dass hier einst gearbeitet und vielleicht auch gewohnt wurde. Im Schutz der Vorderhäuser, die den gepflasterten Hof von den lauten Straßen abschirmen, steht ein Seitengebäude aus Backstein. Am Hofende steht eine Remise aus gelbem Backstein mit roten Ziersteinen, die auch noch ein zweites Geschoss mit schönen alten Sprossenfenstern hat. Die Hofgebäude wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts gebaut und sind typisch für die Berliner Hinterhöfe dieser Zeit. Auf der rechten Hofseite stehen hölzerne Garagen.
Solche Gebäude erzählen nicht nur Stadtgeschichte, sondern spiegeln auch das Lebensgefühl der Gründerzeit wider: pragmatisch, eng, funktional. Und heute? Ein bisschen melancholisch, sehr fotogen und bei genauerem Hinsehen: lebendig wie eh und je.

Doch was ist eigentlich eine Remise? Der Begriff bezeichnet ursprünglich ein Nebengebäude – meist an der rückwärtigen Grundstücksgrenze gelegen – das als Abstellplatz für Kutschen, Geräte oder Fuhrwerke diente. In Berlin entstanden viele dieser Gebäude im Zuge der rasant wachsenden Stadt um 1900.

Die Remise in der Gerichtstraße 45 erfüllt genau dieses Bild. Sie steht etwas zurückversetzt, umgeben von Werkstattatmosphäre und Pflastersteinen, mit dicken Mauern und kleinen Fenstern. Früher war hier mit der Glaserei Wüstenberg ein Handwerksbetrieb untergebracht, davor vielleicht ein Fuhrunternehmen, eine kleine Lagerhalle oder eine Reparaturwerkstatt. Besonders bemerkenswert sind die alten Holztore.
Was damals vor allem zweckmäßig war, wirkt heute wie eine Kulisse aus einem Indie-Film. Der Mix aus Patina, Backstein und den Spuren jahrzehntelanger Nutzung verleiht dem Gebäude jene urbane Ästhetik, die heute als Großstadtromantik gehandelt wird. Nicht geplant, sondern entstanden – und gerade deshalb authentisch.

Dass diese Remise noch steht, ist nicht selbstverständlich. Viele ihrer Art sind längst verschwunden, verdrängt durch Neubauten, Abriss oder Sanierung. Der Kulturhof an der Koloniestraße 10, das beeindruckendste Ensemble im Wedding, ist akut von Abriss bedroht. In Zeiten, in denen Freiräume knapp sind, werden solche Hinterhofrelikte oft übersehen – oder entdeckt und neu belebt. Ob Atelier, Werkstatt oder Wohnraum: Die Remise hat das Potenzial zum kreativen Rückzugsort.

So steht sie da, die Remise in der Gerichtstraße 45 – unspektakulär und doch besonders. Ein Stück Berlin, das geblieben ist. Und das leise erzählt, wie die Stadt früher einmal funktionierte: von vorn die Repräsentation, von hinten die Arbeit. Und mittendrin – das Leben.

Sehr geehrter Herr Faust,
Ich habe ihren Bericht über die Gerichtstraße 45 gelesen. Ich bin in der Glaserei aufgewachsen und kann ihnen einiges mehr über den Hof erzählen. Was er war für mich, die Leute im Kiez und was daraus geworden ist. Wie wir als Glaserei nach 70 Jahren raus mussten.
Beste Grüße Jan Wüstenberg
Sehr gern! Schicken Sie uns einfach eine Mail an [email protected], ich bin sehr gespannt!