Was die Influencer in den Sozialen Medien verkaufen wollen, lässt die Menschen hier unbeindruckt. Neo-Hippie-Style, Strickmoden, Skinny-Jeans. Das ist nichts für das Sehen und Gesehenwerden auf den Boulevards des Berliner Nordens. Hier trägt man mit Stolz, was man anderswo noch nie gesehen hat, oder nicht mehr sehen will. Und doch erkennt man auch hier in diesem Frühjahr deutlich neue Trends, die das Straßenbild prägen.

Ganz klar: Der Frühling bringt das Ende des Schwarze-Daunenjacken-Diktats auf den Straßen. Aber die neue Saison bringt leider auch nicht die Rückkehr der Farbe und der Muster, der Karos oder der Streifen (außer den allgegenwärtigen drei von Adidas). Auch der farbenfrohe Ethno-Style ist selten geworden und nur die Essensfahrer von flink mit ihren schwarzen oder farbigen Turbanen verbreiten manchmal noch exotisches Flair. Der Weddinger Dresscode für diesen Frühling ist eine Wiederkehr der Einfarbigkeit und der gedeckten Töne. Hosen und Jacken meist in Schwarz, manchmal in Leder, in Beige oder in Indigo. Wenige wagen grün. Es sind weniger offen getragene Marken-Logos zu erkennen. Kaum Röcke, Bodenlanges nur in der islamisch geprägten Mode in Hellbraun und Hellgrau. Kinderwagen und Rollatoren bleiben ein beliebtes Accessoire, weiße Plastiktüten mit Obst und Gemüse sind weiter ein Muss und ein Zeichen der Street-Credibility. Die Schuhe eher sportlich, nicht nur bei den jungen Aficionados, bei den Frauen: kaum High Heels. Weiße Sneaker sind auf dem Rückzug, überhaupt ist Weiß weniger zu sehen. Ausgedient hat die Bierflasche als Zeichen der Ortsverbundenheit und des Savoir-vivre. Nur in der Nähe des Leopodplatzes und um den Bahnhof Gesundbrunnen sieht man sie noch häufiger. Dort auch öfter individuelle Style-Kombinationen mit Decken, Capes, Plaids und halben Schlafsäcken, die gekonnt um die Schultern drapiert oder als Schärpe getragen werden.
Die Mutigen tragen schon leichte Pullover, manchmal ein vorsichtiges Rosa. Es ist noch wenig Haut zu sehen, und wenn, dann unfreiwillig im oft üppigen Hüftbereich von Damen und Herren. Auf dem Kopf maximal Caps, meist ohne Logo, Kopftücher und Hoodies, kaum Hüte, auch nicht bei den Damen. Verfilzte Haare und Dreadlocks sind auch nicht mehr so angesagt. Mann trägt das Haar eher kurz. Und bei den Kindern sind Frisuren mit abrasierten Seiten modern, fast irokesig. Auch sonst hinterlassen die Friseure und Barbershops, die es an jeder Straßenecke gibt, viel Bleibendes auf den Köpfen der Passanten. Bei vielen sieht es dort aber auch lässig improvisiert oder selbstgemacht aus. Dazu werden blasierte bis grimmige Großstadtgesicher getragen, selten glattrasiert, oft mit dem überforderten Heroine-Chic, kombiniert mit einem langsamen, fast flaneurhaften Gang. Manchmal trippelnd, manchmal watschelnd, manchmal schwankend. Goldkettchen sind nicht mehr so offensiv sichtbar. Überhaupt wenig Schmuck im Straßenbild - anders als die Vielzahl der Juweliere und Goldhändler in den großen Straßen vermuten lassen würden. Auch keine protzigen Uhren.

Das Smartphone hat alle anderen Statussymbole abgelöst. Schnurrbärte kommen wieder. Manche tragen sie aus Tradition, manche als ersten Versuch nach dem Bartflaum, wie in den 1970ern. Bei den Frauen gleichen Alters viel „Clean Girl"-Ästhetik mit starkem Make Up, betonten Lippen, ohne Falten und Unreinheiten. Sonnenbrillen als Macho-Accessoire tauchen eher am Abend auf oder werden durch das Seitenfenster überschwerer PKW sichtbar. Auch wieder sichtbar: Hosen aus lockerem Baumwolljersey, um nicht zu sagen: Jogginghosen, Sweatpants, die Hosen, die man trägt, wenn man sich, wie Karl Lagerfeld sagte, selber aufgegeben hat.
Das Fehlen des klassisch-bürgerlichen Sortiments von Karstadt macht sich schmerzlich bemerkbar. Deshalb muss ein Blick auf die Wühltische von Aldi, Lidl und Woolworth uns zeigen, was die Sommersaison bringen wird. Hier sind für die Kinder und für die Damen schon die Evergreens vorrätig: T-Shirts mit Disney-Prints und leichte, weite Pullover aus modernen Fasern mit Glitzer- und Lurex-Fäden. Das Modehaus Tchibo präsentiert im Schaufenster seinen Haus-Designer TCM mit einem grasgrünen Minikleidchen in gewagtem, körperbetontem Schnitt. Für die Herren werden bei den Vollsortimentern neben den allgegenwärtigen Oversized-Jeans interessant gepatchte Hosen in geschmackvoll kombinierten Grau- oder dunklen Grüntönen für die Freizeit im Kleingarten offeriert. Immerhin: Bauhaus am Kurt-Schumacher-Platz zeigt in seiner Modeabteilung die unverwüstlichen karierten Lumberjack-Hemden aus Flanell und Softshell-Westen für die kühlen Sommerabende. Man darf auf den Sommer gespannt sein.


Glauben sie allen Ernstes, ich würde mit meiner Luxusuhr (Omega, Rolex…) über die Müllerstraße laufen? Oder meine Frau mit den – als High Fashion erkennbaren – hochpreisigen Mänteln von Max Mara etc.?
Mit Sicherheit nicht hier! Never!
Sehr nette Beschreibung dessen, dass wir hier alle täglich "genug zu tun haben" und lange Tage mit vielen verschiedenen Terminen verbringen. zB die jungen Eltern, die vom Büro in die Kita und zum Spielplatz auf dem Rad herumfahren. Etwa im Lurexkleidchen?
Es könnte alles etwas farbenfroher sein. Ja!
Die feierlichen Orte und Anlässe fehlen uns wirklich, oder?