Er ist Sohn eines Gastarbeiters, hat aber erst als größeres Kind die Umbrucherfahrung gemacht, in ein fremdes Land mit fremder Sprache und Kultur auszuwandern. Doğan Kaya hat uns seine Lebensgeschichte erzählt, die für so viele Menschen im Wedding typisch – und doch einzigartig – ist.
“Wo ich geboren bin, hat es im Jahr 1967 ein Erdbeben gegeben. Dort wurden vom türkischen Staat und mit ausländischer Hilfe Baracken für die überlebenden Opfer gebaut. In einer solchen Siedlung bin ich 1969 aufgewachsen, in einem Gebirge, wo die flachste Stelle immer noch 15 Prozent Steigung hatte (Er zeigt die Schräge mit der Hand). Das Dorf heißt Yeniköy, es liegt bei Pülümur in der Nähe von Erzincan. Ich habe dort bis zum 12. Lebensjahr gelebt. Wir haben ein extrem einfaches Leben gehabt. Den Wert des einfachen Lebens habe ich erst viel später verstanden: Wir hatten alles außer Kleidung aus der Natur gehabt, Äpfel, Birnen, dazu bekamen wir Getreide.
Als ich klein war, war Bildung überhaupt nicht wichtig. Schon die Osmanen und später die frühe türkische Republik haben darauf keinen Wert gelegt. Meine Eltern waren beide Analphabeten, erst beim Militär hat mein Vater das ABC gelernt. Meine Muttersprache ist eigentlich Zazaki, eine mit dem Persischen verwandte indoeuropäische Sprache. Aber in der Schule lernten wir türkisch. Unsere Eltern und Verwandten haben uns sogar verboten, Zazaki zu sprechen, damit wir keine Probleme in der Schule bekommen und schneller türkisch lernen. So habe ich mich langsam von der Muttersprache entfernt, sogar mit meinen Geschwistern musste ich türkisch sprechen. Der Lehrer ließ die Kinder sich gegenseitig bespitzeln, so dass er herausfinden konnte, wer Zazaki spricht und wer türkisch. Und das alles nur, damit wir die Sprache beherrschen! Heute verstehe ich noch Zazaki, aber ich spreche es selbst nicht. Und meine Mutter hat türkisch erst später in Deutschland gelernt!
Ich habe mich langsam von meiner
Muttersprache entfernt
D. Kaya
Mein Vater war im Sommer Bauer, und im langen Winter, wenn die Tiere im Stall blieben, hatten die Männer nicht viel zu tun. Also sind sie in Industriestädte gegangen und haben dort gearbeitet. Mein Vater war im Bergbau tätig, in der Nähe von Bursa. Immer im Oktober, November sind die Männer weggegangen und erst im Februar, März wiedergekommen. Meine Großmutter hatte dann, weil sie die Älteste war, das Sagen, sie war damals schon Witwe. Aber auch junge Männer hatten das Recht, den Frauen alles vorzuschreiben. Gleichberechtigung gab es nicht, ein Mann sollte stark und unnachgiebig sein. Das hatte auch mit Bildung zu tun, die Menschen waren Analphabeten, es galten in dem Dorf keine staatlichen Gesetze, nur das Gesetz des Stärkeren.
Mein Vater wollte nach Deutschland und ist 1972 nach Bergkamen in NRW in die Zeche gegangen, Nach dem türkischen Militärputsch 1980 hielt er es für besser, seine Familie nachzuholen, zunächst meine Mutter und meine älteren Geschwister. Wir Jüngeren waren in der Zeit bei meinem volljährigen Bruder und bei Bekannten untergebracht. Als ich in 1981 Deutschland ankam, konnte ich sprechen und hören, aber ich war in einem Land, wo ich mich taubstumm fühlte. Ich war aus meiner gewohnten Umgebung herausgerissen und plötzlich fühlte ich mich vom Leben abgeschnitten, quasi ohne Hände und Arme. Die Leute redeten mit einem, aber du wusstest nicht, worum es geht.
Nachdem meine Großmutter starb,
wollte ich nicht mehr zurück
D. Kaya
Doch das änderte sich langsam, ich kam in eine Vorbereitungsklasse für türkische Kinder, wo ich deutsch lernte. Für mich war der abrupte Wechsel aber so schlimm, dass ich mit 12 psychisch zusammengebrochen bin. Uns Kinder hat niemand aufgefangen. Egal ob damals oder heute: Wenn jemand von zu Hause weggehen muss, ist das schlimm! Als Kind hatte ich das nicht zu entscheiden, und es hat lange gedauert, bis ich mich zurechtgefunden habe. Ehrlich gesagt: Bis 1990 wollte ich immer wieder zurück in die Türkei. Ich habe in Bergkamen eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker gemacht, ein paar Monate gearbeitet, aber dann wollte ich raus! Entweder nach Stuttgart zu Daimler – oder nach Berlin. In Stuttgart kannte ich keinen, aber meine Schwester wohnte in Berlin. 1992 bin ich zu meiner Schwester in die Seestraße gezogen. Es war nicht so schwer wie in meiner Kindheit, ich kannte ja schon einige Menschen, aber ich bin alle paar Wochen nach Bergkamen gefahren. Erst nachdem meine Großmutter starb, wollte ich nicht mehr in die Türkei zurück. Trotz meiner Heimatliebe, die habe ich immer noch, wenn ich da manchmal zu Besuch bin: Dass ich auf Dauer zurückkehre? Das wird nicht passieren. In den Bergen hatten wir die vier Jahreszeiten sehr ausgeprägt, alles hing von der Natur ab, aber wie hätte ich das damals wertschätzen können? Außerdem hat die Regierung die Menschen nicht unterstützt. Wenn man finanziell keine Probleme gehabt hätte, wäre es aus heutiger Sicht vielleicht ein Paradies.
Ich fühle mich manchmal wie ein Psychologe
D. Kaya
Ehrlich gesagt, ist Berlin heute meine Heimat. Der Wedding hat mir das Ankommen nicht schwer gemacht, ich habe dann aber nach acht Monaten eine Wohnung in Neukölln gefunden. Seit 2008 wohnen wir wieder hier im Stadtteil, 2006 haben wir den Backshop aufgemacht, was heute das Café Desd ist.
Der Kiez ist wie ein Dorf, wenn man jahrelang hier lebt, kennt man jeden. Weil ich jetzt ein Unternehmen im Kiez habe und viele Menschen in unser Café kommen, fühle ich mich manchmal wie ein Psychologe. (lacht) Wenn jemand Probleme hat, kommt die Person zu mir und erzählt davon.
Egal in welchem Land, an welchem Ort man ist: In einem deutschen Tante Emma-Laden oder in einem Café wie unserem – eigentlich sind die Menschen überall gleich!
Erzählen auch Sie uns Ihre Geschichte vom Ankommen im Wedding!
Ein interessantes Leben und eine schöne Geschichte, die der Wedding teils mitgeschrieben hat. Ich gehe gerne in das Café und fühle mich dort wohl. Herr Kaya ist sehr freundlich mit allen, die dort eine Auszeit suchen.
Ja, so kenne ich die Gastarbeiter, die nach Deutschland kamen. Ich habe bei Siemens mit ganz vielen türkischen Menschen zusammengearbeitet. Die konnten alle kein Deutsch. Und da kann ich nur sagen, das lernt man am Besten, wenn man arbeitet. Wir waren gute Kollegen, haben zusammen gefrühstückt und uns gegenseitig eingeladen. Auf wievielen Hochzeiten war ich eingeladen? Ich weiss es nicht mehr. Ich finde aber, dass sich das verändert hat. Aber das liegt nicht nur an uns. Integration ist ja keine Einbahnstrasse. Und mit der Religion haben die früher auch nicht so übertrieben. Das trennt uns noch mehr. Schade eigentlich.