Eine „queere“ Geschichte des Wedding ist nach wie vor noch nicht geschrieben. Da sieht es für andere Berliner Stadtbezirke schon viel besser aus. Insbesondere zu Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee sowie zum Schöneberger „Regenbogenkiez“ rund um die Motzstraße sind in den letzten Jahren Ausstellungen kuratiert und recht umfangreiche Publikationen vorgelegt worden. Dabei haben LSBTIQ*, also Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und andere Angehörige sexueller Minderheiten, wie kaum anders zu erwarten, nie einen Umweg um den Wedding gemacht. Dass die Regenbogenfahne heute auch in Form von Aufklebern im Bezirk wie anderenorts selbstverständlich ist, ist nicht einer neuen Sachlage zu verdanken, sondern schlichtweg einer anderen Kultur im Umgang mit den Themen Sexualität und Identität, der es explizit um Sichtbarkeit geht. Was die Geschichte betrifft, haben es bislang wohl eher die traditionell knappen Ressourcen im ehemaligen Berliner „Arbeiterbezirk“, egal ob in privater oder öffentlicher Hand, sowie eine gewisse Ferne zur akademischen Welt und der in ihr beheimateten Schriftkultur erschwert, dass die schwule, lesbische und trans* Vergangenheit des Wedding nachhaltig aufgearbeitet werden konnte.

Der große Saal in Ballschmieder’s Kastanienwäldchen, Badstr. 16. © Historische Postkarte, gelaufen 1907.
Bekannt ist, dass Magnus Hirschfeld (1868–1935), Arzt und Gründer des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft sowie zentraler Pionier der weltweit ersten Emanzipationsbewegung für Homosexuelle, um 1905 mindestens zwei Vorträge über das „Phänomen der Homosexualität“ im Wedding gehalten hat, einen davon im großen Saal von „Ballschmieder‘s Kastanienwäldchen“ in der Badstraße 16. Über 1.000 Personen sollen an der Veranstaltung teilgenommen haben und dem Redner anschließend minutenlangen Applaus geschenkt haben. Hirschfelds späterer Lebensgefährte, der Archivar Karl Giese (1898–1938) war gar gebürtiger Weddinger. Er entstammte einer Arbeiterfamilie, die in der Schulstraße 17 ansässig war. 1918 wohnte die lesbische Naturärztin Johanna Elberskirchen (1864–1913), die um diese Zeit auch „Obmännin“ des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) Magnus Hirschfelds war und die sich schon 1904 öffentlich „geoutet“ hatte, zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Hildegard Moniac (1891–1967) in der Bellermannstraße 79. Der schwule jüdische Widerstandskämpfer Gad Beck (1923–2012) überlebte unter anderem auch deshalb die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und den Holocaust, weil er zeitweise in der Utrechter Straße 50 untertauchen konnte, und Reinhold Hofer (1901–1945), einer der vier Berliner Polizeibeamten, denen noch Ende April 1945 Homosexualität vorgeworfen wurde und die daraufhin von ihren eigenen Kollegen inhaftiert, erschossen und auf dem Polizeiübungsgelände an der Spandauer Pionierstraße verscharrt wurden, wohnte in der Osloer Straße 20. Auch in der Nachkriegszeit lebten LSBTIQ* und ihre Unterstützer im Wedding. In der Berliner Woche erschien 1953 unter dem Titel „Hofgeschichten vom Wedding“ eine Reportage über den Cross-Dresser „Willy, genannt Erika“ (Familienname unbekannt), der mit seiner Frau die „glücklichste Ehe Berlins“ führe. In der Druckerei von Rudolf Meier (1908–2004) in der Genter Straße 8 wurde von 1958 bis 1965 mit der Zeitschrift Der Weg das langlebigste Produkt der deutschen Homophilenbewegung hergestellt, und bis weit in die 1970er Jahre hinein gab es mit dem „F-14“ in der Fehmarner Straße 14 eine „schwule“ Bar. An all diese Personen, Orte und Ereignisse erinnert heute im Wedding allerdings nichts mehr.
Gedacht werden soll an dieser Stelle eines weiteren „queeren“ Weddingers, der in den späten 1970er Jahren unter dem Namen „Charlotte“ weit über die Grenzen seines Heimatbezirks hinaus von sich reden machte. Charlotte war eine der drei Hauptpersonen des Buches Charlotte, Salome, Veronika. Transvestiten (1978) von Susann Hillebrand und Irmgard Johannson, wobei ihr bürgerlicher Name nur mit „Otto M.“ angegeben wurde. Details zu Charlottes bewegtem Lebensweg sowie auffällige Einzelheiten auf den in dem Buch zum Abdruck gebrachten Fotografien haben Mitte letzten Jahres mit Hilfe des Weddingweiser auf die Spur von Charlotte alias Otto M. und ihre bzw. seine Wohnadresse in der Wriezener Straße geführt. Die Forschungsergebnisse zur Vita des Otto M. (1901–1989), einem „waschechten“ Weddinger, sollen hier erstmals vorgestellt werden. Sein Familienname wird dabei jedoch nicht genannt, weil Otto M., der um 1977 von sich sagte: „Als Frau fühl ick mir einfach am wohlsten“, ihn offenbar zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt sehen wollte.

Otto M. alias Charlotte: „Als Frau fühl ick mir einfach am wohlsten.“ © Unbekannter Fotograf, um 1977.
Otto M. wurde am 30. Mai 1901 als jüngstes von vier Kindern des Friedhofgärtners Wilhelm M. (1862–nach 1937) und dessen Frau Auguste, geborene G. (1859–1918/19), in der Hochstädter Straße 9 geboren. Die Eltern waren evangelisch. Der Vater stammte aus Vossberg in der Uckermark und hatte zunächst als Kutscher gearbeitet. Die Mutter war gebürtig aus Truheband im Kreis Lebus (Märkisch-Oderland). Die Eltern hatten 1891 in Berlin geheiratet. Otto M. hatte drei Geschwister: zwei Schwestern und einen Bruder. „Mit meine Schwestern hab ick mir jut verstanden, aber mit mein Bruder nich, als Kind schon nich. Meine Eltern waren in Ordnung“, sagte Otto M., als er 77 Jahre alt war. Da hatte er allerdings auch keine Verbindung mehr zu seinen Schwestern, der Bruder war bereits verstorben. Die Eltern seien ursprünglich konservativ gewesen, sagte Otto M. später auch, aber nach dem Ersten Weltkrieg habe der Vater die Arbeiterzeitung Welt am Abend gelesen. Außerdem habe er selbst schon früh gegen sein Elternhaus rebelliert: „Ach, ick hab mir ja nüscht sagen lassen von zu Hause, ick hab trotzdem alles jemacht, wat ick wollte“, behauptete er. Eigentlich wollte Otto M. Tischler werden, aber der Vater war dagegen. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er in dem Wilhelmsruher Motoren- und Dynamowerk Bergmann, das zunächst in Moabit gegründet worden war und über etliche Jahre auf dem Gelände der heutigen „Osram-Höfe“ an der Seestraße ansässig war, und anschließend wurde er für das Berliner Zweigwerk des Nutzfahrzeugherstellers Magirus-Deutz in Tempelhof tätig.
Erste sexuelle Erfahrungen sammelte Otto M. mit seinen Klassenkameraden, als er 15 war. Frauenkleider hat er dann zum ersten Mal um 1917 getragen und besuchte ab da auch die „Schwulenlokale“ am Schöneberger Bülowbogen, unter ihnen wohl das „Dorian Gray“, den „Nationalhof“, die „Hohenzollern-Diele“ und das „O-la-la“. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Otto M. Mitglied im „Arbeitersportverein Fichte“, in dem auch die Freikörperkultur gepflegt wurde. Offenbar verstand er sich damals als bisexuell, denn später behauptete er: „Die Fichte war jut, […]. Die Fichtemädels warn alle prima, warn frei, die Mädels, war schön.“ Etwa um die gleiche Zeit besuchte er regelmäßig einen Tanzsaal in der Ackerstraße, den die Eltern eines Schulfreunds betrieben. Dort fanden Witwenbälle statt und boten der männlichen Arbeiterjugend gute Gelegenheit für ein „Zubrot“. Otto M. behauptete später: „[…] da war wat los, die ham wa abjeschleppt. Hör mal, war man jut, wenn man von die Weiber een Zweimarkstück jekriegt hat. Det war viel Jeld.“ Zwei Mark, führte er aus, habe damals dem „Lohn“ entsprochen, den die Prostituierten am Alexanderplatz bekamen. Eine Geschlechtskrankheit habe er sich aber, wohl im Gegensatz zu vielen von ihnen, nie zugezogen.
Parteipolitisch engagiert hat sich Otto M. nach eigenen Angaben nie. Wohl verstand er sich als links und beteiligte sich als Arbeiter an Demonstrationen und Streiks, aber mit dem Jahr 1933 veränderte sich sein Leben dann abrupt: „Am schönsten wars jewesen nach dem ersten Weltkrieg, da wars schön. Dann fing der Scheiß-Hitler an, der hätte nich kommen dürfen.“ Am 30. April 1937 heiratete Otto M. zum ersten Mal. Seine Auserwählte war die Hausangestellte Gertrud P. (1903–1944), und noch im selben Jahr wurde er Vater einer Tochter. Gertrud P. stammte gebürtig aus Hirschberg in Niederschlesien (heute Jelenia Góra, Polen), und das Paar hatte sich in einem Frauenlokal am Tauentzien kennen gelernt, möglicherweise im Wein- und Caférestaurant „Domino“ in der Marburger Str. 13 (Ecke Tauentzienstraße), für das zwischen 1924 und 1932 Werbung in den „schwul-lesbischen“ Zeitungen der Zeit wie „Die Fanfare“, „Die Freundin“ und „Frauenliebe“ gemacht wurde. Gertrud P. fand es gut, dass ihr späterer Mann Frauenkleider trug. So gingen die beiden oft als Schwestern aus. In sexueller Hinsicht sei seine Frau, so Otto M. später, sehr frei und tolerant gewesen, und deshalb war es auch kein Problem, wenn die Eheleute wechselnde Sexualpartner hatten. Offenbar verstanden sich die beiden so gut, dass Otto M. über seine erste Frau noch dreißig Jahre nach ihrem Tod sagen konnte: „Die müßte heut noch leben, det wär schön.“

Durchfahrt zu einem Weddinger Hinterhof vor knapp fünfzig Jahren. In diesem Haus wohnte Otto M. Ende der 1970er Jahre. © Unbekannter Fotograf, um 1977.
Doch Gertrud M. litt an Anämie und starb 1944 in ihrer schlesischen Heimat. Die Tochter kam anschließend in ein Kinderheim, wo der Vater sie erst 1949 mit Hilfe des Roten Kreuzes ausfindig machen konnte. Otto M. selbst wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Wehrmacht eingezogen und gehörte zeitweise der zweiten Kompanie im Landesschützen-Ersatz-Bataillon 3 an. Im Kriegseinsatz diente er in verschiedenen Funktionen, so als Melder und Ordonnanz, unter anderem auf Kreta, doch nach eigenen Angaben desertierte er 1941 zusammen mit einem Vorgesetzten namens Fischer und ging nach Frankreich. Der verwitwete Oberleutnant Fischer soll dann ein Bordell in Besançon betrieben haben, und in diesem Betrieb arbeitete Otto M. bis 1948. Er ließ sich Brüste spritzen und lernte nach eigenen Angaben nach und nach perfekt Französisch. Mit falschen Entlassungspapieren kam Otto M. 1949 nach Berlin zurück. Er galt nun als „ausgebombt“ und erhielt eine Wohnung in der Friesenstraße in Kreuzberg. Da ihm eine Notstandsarbeit zugewiesen wurde, begann er, im Krankenhaus zu arbeiten. Nach eigenen Angaben hatte er im Leben nur drei Arbeitsstellen. Die längste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war er im Dominikus-Krankenhaus in Hermsdorf tätig, das von Nonnen betrieben wurde. Hier war er sechzehn Jahre lang als Hausmeister für die Reparatur von Heizungen und Fahrstühlen sowie für die Gartenarbeit zuständig. Er musste Obstbäume beschneiden und Gemüse ernten.

Otto M. trat auch im hohen Alter oft als „Anemiermädchen“ und „Oben-ohne-Frau“ auf. © Unbekannter Fotograf, um 1977.
1949 wurde Otto M. zum zweiten Mal Vater. Der Sohn wurde allerdings unehelich geboren, zudem kam er mit einem Hirnschaden zur Welt, da die Mutter im fünften Monat der Schwangerschaft eine Abtreibung versucht hatte. Otto M. erwirkte das Sorgerecht, und gepflegt wurde der Junge von seiner älteren Halbschwester, wenn der Vater arbeiten war. Die Mutter Frieda H. (1915–1977), die aus einem kleinen Ort in Westpommern (heute Polen) stammte, heiratete Otto M. erst 1956. Ab seinem elften Lebensjahr lebte der Sohn dann in den Wittenauer Heilstätten, in denen sich auch seine Mutter nach einem Selbstmordversuch mehrfach aufhielt. Aus Rücksicht auf sie durfte Otto M. nach ihrer Rückkehr nach Hause keine Gasheizung mehr halten, und er durfte auch nicht elektrisch kochen, solange seine Frau in der Wohnung war. Frieda M. stand über etliche Jahre hinweg unter schweren Beruhigungsmitteln.
Otto M. ging 1966 in Rente, verdiente sich in den folgenden Jahren aber stets Geld unter der Hand dazu. Von 1967 bis 1971 war er „Anemiermädchen“ in der Plüsch- und Tingel-Tangel-Bar „Lützower Lampe“ des „Damenimitators“ Ottokar Thome (1928–2020), genannt Karmeen, in der Charlottenburger Behaimstraße, später wohl auch im „Hollido-Club“ in der nahe gelegenen Neufertstraße und in der „Cerobar“ in der Damaschkestraße unweit des Kurfürstendamms. Essen und Trinken bekam er gratis, allerdings erhielt er keine Bezahlung, sondern musste sich diese durch Prostitution bei seinen Freiern verdienen. Wie in Frankreich zuvor ließ er sich regelmäßig weibliche Hormone spritzen und trat als „Oben-ohne-Frau“ auf. Eine Spritze habe 30 Mark gekostet, und ihre Wirkung habe drei Wochen angehalten. Nach eigenen Angaben hat Otto M. immer gut verdient, doch mit der Zeit habe sich der Geschmack der Freier geändert. Die „Jungs“ sollten nun alle „glatt“ und „knabenhaft“ sein.
Ob Otto M. um 1978 Zeuge davon wurde, dass David Bowie (1947–2016) in der „Lützower Lampe“ eine Szene für seinen Film „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ einspielte, ist nicht belegt. Auch um diese Zeit ging er noch „anschaffen“. Er verkaufte Pornohefte, das Stück 10 Mark, und sich selbst in Filmclubs, wobei er sich tagsüber allerdings nicht in Frauenkleidern bewegte, wie er selbst sagte: „Wegen die Leute, det kann ick doch nich machen. Wenn ick alleine bin, da zieh ick mir alles unter, da hab ick weite Hosen und so, wenn ick hier in de Nähe jehe, dann jeh ick spät abends. Ick fühl mir als Frau wohler. Der Frauenkörper is mir viel vertrauter.“ An Kultur hatte er im Übrigen kein großes Interesse, und einen Fernseher durfte er auch aus Rücksicht auf seine Frau nicht haben. Nur sonntags, wenn „Bonanza“ lief, besuchte er einen alten Freund: „Hin bei mein Freund, jestern war ick da, da war ‚Bonanza‘, det seh ick mir jerne an, ja, det seh ick jerne. Det Landschaftliche, ja, det is schön.“ Ansonsten lese er abends manchmal seine Westernbücher. Daneben fahre er mit der S-Bahn zu seinen Freiern: „Nur Männer, Stammkunden.“ Vor diesem Hintergrund kann Otto M. wohl als überwiegend homosexueller Transvestit beschrieben werden, der in seinem Leben gleichwohl auch heterosexuellen Geschlechtsverkehr mit Frauen pflegte. Der Umstand, dass er zweimal verheiratet war, Vater wurde und die Vaterrolle auch jeweils annahm, belegt dies. Otto M.s „Frausein“ erscheint so als Insignie seines homosexuellen Begehrens, wie ja in seinem Wahlnamen Charlotte auch sein Geburtsname Otto recht deutlich anklingt.
Zusammen mit Susann Hillebrand und Irmgard Johannson, den beiden Autorinnen des Buches Charlotte, Salome, Veronika. Transvestiten, besuchte Otto M. um 1977 die Künstlerkneipe „Die kleine Weltlaterne“ in der Wilmersdorfer Nestorstraße 22. Bei Hertha Fiedler (1923–2010), der Wirtin, die „Die kleine Weltlaterne“ 1961 zunächst in der Kohlfurter Straße in Kreuzberg eröffnet hatte, sei er bzw. Charlotte schließlich immer „jern jesehn, auch im Fummel“. Hier erging sich Otto M. zusammen mit einem Freund in Nostalgie und dachte zurück an alte Zeiten, „wo man sich nackt auszog und auf der Theke tanzte.“ Als die Autorinnen bezahlen wollen, klopfte er ihnen unwirsch auf die Finger; seine Männlichkeit war verunsichert, wie Susann Hillebrand und Irmgard Johannson respektvoll feststellten. Otto M. starb am 30. Mai 1989, seinem 88. Geburtstag, im Wedding.

Otto M. war in der „kleinen Weltlaterne“ ein gern gesehener Gast. © Unbekannter Fotograf, um 1977.
Für ihr Buch Charlotte, Salome, Veronika. Transvestiten stand Otto M. Susann Hillebrand und Irmgard Johannson in Wort und Bild freimütig zur Seite. Er sprach über seine Sexualität und seine Arbeit als „Amüsierdame“, ließ sich in und vor seiner Wohnung sowohl in Männer- als auch in Frauenkleidung fotografieren, war aber auch darauf bedacht, eine gewisse Anonymität zu wahren. So verwahrte er sich, wie eingangs erwähnt, dass sein Nachname nicht gedruckt wurde, benutzte ein falsches Geburtsdatum und gab selbst für seine erste Frau einen falschen Vornamen an. Möglicherweise ging Letzteres aber auch auf ein Versehen bei der Drucklegung des Buches zurück. Auch eine Adressangabe machte Otto M. nicht, sondern ließ nur verlauten, dass er einst im Wedding geboren sei und nun dort auch wieder wohne. Otto M.s weitere Spuren aufzunehmen, gelang erst mit Hilfe des Weddingweiser. Denn Otto M. ließ sich unter anderem an der Hofeinfahrt des Mietshauses fotografieren, in dem er wohnte. Weitere Fotos zeigten diese Hofeinfahrt, die sich durch einen markanten Rundbogen auszeichnete, sparten aber ein Straßenschild aus, und auch eine Hausnummer ließ sich nicht entziffern. An den Gebäuden angebrachte Reklameschilder verwiesen auf ein Heizungsfachgeschäft und eine Glaserei.

Links: Das historische Foto, das der Weddingweiser im Herbst 2024 veröffentlichte und das auf die Spur von Otto M. führte. © Unbekannter Fotograf, um 1977 (links), Raimund Wolfert, 2024 (rechts).
Ein Aufruf über den Facebook-Auftritt des Weddingweiser im Sommer 2024 brachte den entscheidenden Durchbruch für die weitere Recherche. Auf die Frage, ob jemand die Ansicht wiedererkenne, antwortete ein Nutzer des Weddingweiser: „Wriezener Straße“. Ein umgehender Ortstermin konnte den Hinweis eindeutig bestätigen. Obwohl das Haus in der Zwischenzeit wohl mehrfach renoviert worden war, besteht kein Zweifel: Otto M. alias Charlotte wohnte die letzten Jahre seines Lebens im Nachbarhaus zum heutigen „Ballhaus Wedding“. Hier fanden zur Zeit der Weimarer Republik zahlreiche frivole Tanz- und Vergnügungsveranstaltungen statt. Später versammelten sich in dem Ballsaal und dem angegliederten Wintergarten auch Nationalsozialisten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte der Verfall des Gebäudes ein, pompöse Festlichkeiten fanden hier nun nicht mehr statt. Mitte der 1980er Jahre mietete eine Gruppe von Motorrad-Liebhabern den Tanzsaal an und zog eine Mauer hindurch. Auf der einen Seite entstand eine Werkstatt für Motorräder, auf der anderen war nach wie vor Platz für Konzerte. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 wurde in dem Gebäude das „Ballsaal Studio“ betrieben, und vor ein paar Jahren erst entstand hier das „Ballhaus Wedding“, das an die großen Zeiten der Räumlichkeit in der Weimarer Republik anknüpft.

Früher und heute, Otto M. / Hof an der Wriezener Straße. © Unbekannter Fotograf, um 1977 (links), Raimund Wolfert, 2024 (rechts).
Otto M., der selbst ein ausgesprochen bewegtes Leben geführt hatte, dürfte gewusst haben, welch geschichtliches Kleinod sich hinter den verwahrlosten Mauern in seiner Nachbarschaft verbarg. Aber ob er es schon in den 1920er Jahren besucht hatte, ist heute unbekannt. Susann Hillebrand und Irmgard Johannson haben ihn vermutlich nie danach gefragt, weil auch sie nicht gewusst haben dürften, dass der Wedding einst ein Berliner Stadtteil mit „Ballhaus-Tradition“ war. So erschien die Geschichte von Charlotte alias Otto M. fast wie die eines Unikums. Sie zeigt uns mitsamt der zum Abdruck gebrachten Schwarzweiß-Fotos aber heute, wie bunt und „queer“ auch der Wedding trotz allem einst war.
Text/Fotozusammenstellung: Raimund Wolfert
Trotz intensiver Suche konnten die Rechteinhaber an den Fotos von Otto M. alias Charlotte und seinem Umfeld von 1978 nicht ermittelt werden. Sollten Rechte Dritter berührt sein, bitten wir um Nachricht.
Literatur:
Hillebrand, Susann und Irmgard Johannson: Charlotte, Salome, Veronika. Transvestiten. München: Rogner & Bernhard, 1978.

vielen vielen Dank für diese wunderbare Geschichte über Otto M.