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Wedding: 2040 #3: Schmetterling

19. Mai 2020

Das Jahr 2040. 20 Jah­re sind ver­gan­gen, seit Melis­sa, Rias bes­te Freun­din, spur­los ver­schwun­den ist. Ria kehrt an die­sem schmerz­er­füll­ten Jah­res­tag wie­der zurück an den Ort, wo Melis­sa das letz­te Mal gese­hen wur­de – und trifft sie dort plötz­lich wieder.

Eine Fort­set­zungs­ge­schich­te von Net­hais Sandt und Ruben Faust

(Teil 1 zum Nach­le­sen) (Teil 2 zum Nach­le­sen)

Bevor mir schwarz vor Augen wird, sehe ich Ria aus dem Laden wie­der her­aus­kom­men, in der Hand eine Tüte mit dem Thril­ler drin. Ich höre ihre ver­wirr­te Stim­me, wie sie erst lei­se, dann immer lau­ter mei­nen Namen ruft.  Aber sie kommt nicht auf mich zuge­rannt,  den­ke ich in einem letz­ten bewuss­ten Moment,  Es ist bei­na­he so, als wür­de sie mich gar nicht sehen.

(Teil 1)

Ich schreie in die Schwär­ze rein, so laut wie ich kann. Kein Licht, kein oben, kein unten, und doch lie­ge ich am Boden. Ein Gefühl, als wür­de man in der Matrix sein. Mei­ne Stirn schmerzt wei­ter­hin und es ist schwie­rig, die Augen offen zu hal­ten. Ich schreie noch ein­mal so laut ich kann um Hil­fe: Nach Ria, nach mei­ner Mut­ter und nach mei­nem Freund Erik. Und dann plötz­lich: Stra­ßen­ge­räu­sche, wie zuvor. Es wird immer lau­ter, dann fal­le ich hin. Und plötz­lich ist der Kopf­schmerz weg.

Ein Mann in einem Anzug hat sich neben mich hin­ge­kniet. Besorgt schaut er aus sei­nen trau­ri­gen, alten Augen. “Geht es Ihnen gut? Sind Sie ver­letzt? Ken­nen Sie Ihren Namen?” Er kommt gar nicht mehr aus dem Fra­gen­stel­len her­aus. Ich ver­su­che mich auf­zu­rich­ten, wäh­rend sich immer mehr und mehr Leu­te um mich her­um ver­sam­meln. “Ria. Wo ist Ria?”, fra­ge ich ihn. Er schaut mich ver­wirrt an. Ich beschrei­be ihm, wie sie aus­sieht, wäh­rend er auf­steht und nach ihr sucht. Ich mer­ke, dass irgend­was nicht stimmt. Etwas ist anders. Der Boden, so sel­ten ich ihm auch so nahe bin, ist hel­ler und sau­be­rer. Bei genaue­rem Hin­schau­en tra­gen die Leu­te auch komi­sche Sachen.

Nach einer Minu­te kommt zwi­schen dem Gemur­mel der Men­ge und den Geräu­schen der rest­li­chen Stra­ße eine Ant­wort: “Hier bin ich. Ich bin Ria!” Eine Frau, die vage aus­sieht, wie ich mir eine älte­re Ria vor­stel­len wür­de, sieht mich ent­setzt an. Dann fällt  sie auf ihre Knie. Wie aus einem Was­ser­fall strö­men ihr Trä­nen­flüs­se das Gesicht hin­un­ter und zwi­schen dem damit ein­her­ge­hen­den Schluch­zen kommt die Fra­ge: “Melis­sa?” aus ihren Lip­pen hervor.

Wer ist die­se Frau denn jetzt? Und war­um fängt sie an zu wei­nen? Das ist nicht Ria. Nach ihr habe ich nicht gesucht. Ich setz­te mich auf und fah­re mir durch die Haa­re. Nach einem komi­schen Gefühl sehe ich Blut in mei­ner Hand. Ver­dammt. Ich rufe noch ein­mal nach Ria. Sie wüss­te bestimmt, was ich jetzt tun soll. Und auch mir fal­len die ers­ten Trä­nen vom Kinn. Ich atme tief ein und aus. Die Frau wie­der­holt, dass sie Ria sei und fragt mich nach mei­nem Namen: “Melis­sa?” Als Ant­wort ver­gra­be ich mein Gesicht in mei­nen Händen.

Tief in mir spü­re ich, dass sie es ist. Ihre Stim­me wür­de ich über­all wie­der erken­nen. Aber wie soll das Ria sein? Mei­ne Ria?  Mei­ne bes­te Freun­din. Ich schaue wie­der auf. Die Leu­te um uns her­um sind min­des­tens so ver­wirrt wie ich. Ich knei­fe die Augen zusam­men und drü­cke mei­ne Fin­ger gegen mei­ne Schlä­fe um erst­mal einen kla­ren Gedan­ken zu fassen.

Der Mann fragt mich, ob er den Not­ruf rufens soll. Ich win­ke jedoch ab und sage, es gin­ge mir gut. Die Leu­te gehen lang­sam wei­ter ihrem Tag nach und ich bedan­ke mich bei dem Mann für sei­ne Hil­fe. Er nickt und geht dann auch.

“Das Tat­too!”, sage ich. Wenn das Ria ist, dann hat sie noch das Tat­too: Die rech­te Hälf­te vom Schmet­ter­ling auf ihrem Arm. In einem Moment von Ener­gie und Wil­lens­drang grei­fe ich ruck­ar­tig nach Ihrem lin­ken Arm und strei­fe den Ärmel hoch: Und da ist er: ver­ziert mit Blü­ten­blät­tern und voll­stän­dig aus­ge­heilt. Nein. Das ist Zufall. Das kann nicht Ria sein. Das Tat­too ist ver­heilt und alt – dabei waren wir doch erst vor ein paar Minu­ten im Tat­too­stu­dio. Aber wer soll­te sonst ein genau pas­sen­des Tat­too haben? Ich atme tief ein und wie­der aus. Es muss Ria sein.

Die Frau – Ria – schaut auf. Sie hat auf­ge­hört zu wei­nen. Ungläu­big schaut sie mich an. Ich zei­ge mei­nen Arm, der noch rot ist. Die ande­re Hälf­te des Schmet­ter­lings. Sie starrt eini­ge Sekun­den lang dar­auf: “Nein! Das kann nicht sein.” Und doch ist es so. Ich schaue ihr tief in die Augen. Sie hat Angst, sie ist trau­rig und trotz­dem: Das ist Ria.

Sie fängt erst an zu kichern, und ver­fällt dann wie­der ins Schluch­zen. Tief ernst, schaue ich sie wei­ter­hin an. “Bist du es wirk­lich?”, fragt sie. Und ich bin mir ehr­lich gesagt nicht sicher. Ich nicke trotz­dem zustim­mend und läche­le sie an.

Ria hief sich hoch und hilft mir auf­ste­hen. “Als ers­tes müs­sen wir die­se Wun­de ver­sor­gen.”, sagt sie. Sie scheint sich nicht ent­schei­den zu kön­nen, ob sie glück­lich sein soll oder nicht. Sie bringt mich in eine Apo­the­ke, und die Bedie­nung lässt uns in ein Behand­lungs­zim­mer hin­ter dem Tre­sen. Auf der Tür steht, dass die­ser Raum zur Ers­te Hil­fe-Leis­tung gedacht ist. “Wie ist das pas­siert?”, fragt sie mich. “Ich muss hin­ge­fal­len sein.”, stam­me­le ich. Die Apo­the­ke­rin geht kurz raus und kommt mit einem klei­nen glä­ser­nen Gerät wie­der. “Bit­te kurz still­hal­ten.” Sie hält es über die Wun­de und im Spie­gel sehe ich einen blau­en Strahl davon auf mei­ne Wun­de kom­men. Es wird etwas warm um die­se Stel­le. “So das war’s auch schon. Trin­ken Sie viel Was­ser und am bes­ten kei­nen Alko­hol”, sagt sie dann und nimmt das Gerät wie­der weg. Ria kommt wie­der rein und tippt auf einer Glas­schei­be her­um, wäh­rend ich mir im Spie­gel anse­he, dass die Wun­de voll­stän­dig ver­heilt scheint.

Wir gehen still neben­ein­an­der über den Leo­pold­platz und set­zen uns am Spiel­platz auf eine der Bän­ke. Vie­le der Autos sind fah­rer­los, wie mir beim genaue­ren Betrach­ten auf­fällt. Die Häu­ser sind alle in weiß oder in Grau­tö­nen gestri­chen. “Das ist also die Zukunft, rich­tig?”, fra­ge ich halb scherz­haft, halb ein­ge­schüch­tert. “Ja”, bekom­me ich als Ant­wort. “Es scheint sich vie­les ver­än­dert zu haben.” “Ja.” “Fah­rer­lo­se Autos, Han­dys aus Glas, die Bus­se sind jetzt blau…” “Ja, es hat sich eini­ges ver­än­dert. Du warst 20 Jah­re lang ein­fach ver­schwun­den und ich soll jetzt ein­fach mit dir Small­talk füh­ren?”, ent­geg­net Ria, “Ich kann nicht ein­fach so tun, als wäre nichts pas­siert und dir jetzt erzäh­len was du ver­passt hast.” “Du hast recht. Ent­schul­di­ge bitte.”

Wäh­rend wir still neben­ein­an­der sit­zen, schaue ich den Kin­dern beim Spie­len zu. Das ist noch gleich geblie­ben. Kin­der, die rum­tur­nen. “20 Jah­re also?”, fra­ge ich. Ria nickt. “Und du wohnst immer noch hier?” – “Ich hab auf dich gewar­tet – Melis­sa. Du bist spur­los ver­schwun­den.” – “Und jetzt bin ich wie­der da. Aber ich ken­ne dich doch über­haupt nicht mehr. 20 Jah­re. Du musst mir doch erzäh­len, was pas­siert ist!” – “Ich hab gehei­ra­tet. Und ich hab einen Sohn.” – “Das freut mich total!”

Wie­der sit­zen wir still da. “Was ist mit Erik pas­siert?”, fra­ge ich sie. “Das erzäh­le ich dir lie­ber bei einer Tas­se Tee zu Hau­se.” Damit stand sie auf und wies mich an, ihr zu folgen.

Fort­set­zung folgt!

Alle Figu­ren und Namen sind rein fik­tio­nal und jede Über­ein­stim­mung mit der Rea­li­tät ist nur zufällig.

Wedding:2040 ist eine Wed­ding­wei­ser-Text­rei­he von Ruben Faust und Net­hais Sandt. Sie wird immer diens­tags und frei­tags weitergeführt.

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