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Gebrauchte Kleidung und ein gutes Gespräch

19. Dezember 2016
Wer Schuhe braucht, findet sie auch in der Kleiderkiste. Foto: Lena Reich
Wer Schu­he braucht, fin­det sie auch in der Klei­der­kis­te. Foto: Lena Reich

Gebrauch­te Hosen und Pull­over, ein paar gol­de­ne Schu­he: Das Kiez­ma­ga­zin Sol­di­ner hat die Klei­der­kis­te in der Wollank­stra­ße 58–60 besucht und mit den Mit­ar­bei­tern über ihre Arbeit für bedürf­ti­ge Men­schen und den Wan­del im Stadt­teil gesprochen.

Der Raum ist durch und durch mit Rega­len voll­ge­stellt. Dar­in lie­gen Klei­dungs­stü­cke, Schu­he und Kin­der­spiel­zeug. Ein blau­er Pull­over kos­tet 3 Euro: Er ist aus acht­zig Pro­zent Baum­wol­le, hat einen V‑Ausschnitt und lädt zum Mit­neh­men ein. Neben dem gro­ßen Tisch mit aller­lei Ober­tei­len, Jacken und Müt­zen thront auf einem erhöh­ten Podest ein Paar gol­de­ne Schu­he, neun Zen­ti­me­ter Absatz, so dürr, das man bangt, sie könn­ten allein vom Hin­se­hen umkni­cken. Eine jun­ge Frau mit lan­gem grau­en Parka hebt den lin­ken Schuh hoch. Sie sieht lächelnd zur Kas­se hin­über. „Jeder liebt die­se Schu­he“, flö­tet Moni­ka, die vor dem kur­zen Ver­kaufs­tre­sen steht, „aber kei­ner will sie haben. Dafür haben die Men­schen Wich­ti­ge­res im Sinn!“

Kleiderständer in der Kleiderkiste in der Wollankstraße. Foto: Lena Reich
Klei­der­stän­der in der Klei­der­kis­te in der Wollank­stra­ße. Foto: Lena Reich

Die meis­ten Kun­den, die in der Klei­der­kis­te ein­kau­fen gehen, kön­nen sich die Mode von der Stan­ge im Gesund­brun­nen-Cen­ter nicht leis­ten. Der Ver­ein Men­schen hel­fen Men­schen in und um Ber­lin e.V. (MHM) hat in der Wollank­stra­ße für die­se Men­schen einen Sozi­al­la­den. Pri­vat­leu­te spen­den dafür, Fir­men eben­falls. Auch eine Film­pro­duk­ti­ons­fir­ma plün­dert regel­mä­ßig ihren Fun­dus und stif­tet die gut erhal­te­ne Klei­dung. Wäh­rend drau­ßen der Hagel laut und bedroh­lich auf das Flach­dach pras­selt, legt Moni­ka mit einer sym­pa­thi­schen Ruhe die Klei­dungs­stü­cke zusam­men, die die jun­ge Frau kurz zuvor durch­ein­an­der gebracht hat. Wäh­rend sie redet, wer­kelt und tut Moni­ka. Sie kennt jede Ecke der Kis­te – und ihren Kiez.

Seit sechs Jah­ren ist Moni­ka Teil der gro­ßen MHM-Fami­lie. Ehren­amt­lich, wie alle ande­ren. Auf­ge­wach­sen ist die 54-Jäh­ri­ge in der Stet­ti­ner Stra­ße. „Wenn Tou­ris­ten kamen und frag­ten, wie es sich so lebe mit der Mau­er direkt vor der Nase, da wuss­te ich eigent­lich nie, von was sie spra­chen. Ich hat­te nicht das Gefühl, dass da ’ne Mau­er stand und ich was ver­pass­te.“ Als Anfang der 1970er Jah­re eine gro­ße Kuh­le an der Pan­ke aus­ge­ho­ben wur­de, da waren die Kin­der im Kiez auf­ge­regt: Moni­ka und ihre Freun­din­nen fan­ta­sier­ten sich ein Schwimm­bad oder min­des­tens einen See her­bei. Schwer ent­täuscht über das ent­stan­de­ne Rück­hal­te­be­cken zogen sie sich auf den höher gele­ge­nen Spiel­platz zurück, den sie fort­an „Olymp“ nann­ten. Bis zwei Jah­re vor der Mau­er­öff­nung war die Wollank­stra­ße eine vier­spu­ri­ge Fahr­bahn, auf der nichts los war. Alte Foto­gra­fien aus Moni­kas Album zei­gen Bra­che und Weite.

Die goldenen Schuhe haben viele Bewunderer, aber keinen Käufer. Foto: Lena Reich
Die gol­de­nen Schu­he haben vie­le Bewun­de­rer, aber kei­nen Käu­fer. Foto: Lena Reich

Moni­ka hat beob­ach­tet, wie der Wed­ding sich im Lau­fe der Jah­re ver­än­der­te. Die Stra­ße ist heu­te belebt, die letz­ten Bau­lü­cken wer­den geschlos­sen. Das Auto­haus Prinz an der Kreu­zung weni­ge hun­dert Meter wei­ter wur­de abge­ris­sen. Dort sol­len Wohn­häu­ser ent­ste­hen. Im Inter­net ist die Rede von 300.000 Euro für die zukünf­ti­gen 3‑Zim­mer-Eigen­tums­woh­nun­gen. Vie­le freu­en sich, das der Kiez durch neue Leu­te offe­ner wird. Aber eins steht fest: Dort, wo Moni­ka auf­ge­wach­sen ist, kann sie sich die Mie­te jeden­falls nicht mehr leis­ten. Dabei gibt es immer mehr Hartz-IV-Emp­fän­ger, die auf die Klei­der­kis­te ange­wie­sen sind. Als Wed­din­ge­rin küm­mert sie sich ger­ne um die Wed­din­ger, die Hil­fe nötig haben.

Auch das gehört zum Wan­del im Kiez: Vie­le, die über Jah­re in den Sozi­al­la­den gekom­men sind, sei­en nun ein­fach ver­schwun­den, muss­ten wegen stei­gen­der Mie­ten weg­zie­hen. Und obwohl auch die Zahl der Woh­nungs­lo­sen zunimmt, neh­men Obdach­lo­se das Ange­bot von MHM immer sel­te­ner an. Wenn sie kom­men, gibt Moni­ka ihnen einen dop­pel­ten Satz Klei­dung, ver­sorgt sie mit Decken, ent­sorgt die alten Klei­der. Jüngst hat ein Pots­da­mer Hotel Decken abge­ge­ben. Doch das allein ist es nicht, was die Arbeit in der Klei­der­kis­te aus­ma­che. Im Win­ter, wenn vie­le auf den Dach­bö­den und in den Kel­lern schla­fen, weil die Käl­te oder die Kon­kur­renz in den Hei­men sie nach drin­nen drän­gen, ist auch die Ein­sam­keit am größ­ten: „Und wenn sie ein­fach nur ein gutes Gespräch wol­len, dann bekom­men sie eben ein gutes Gespräch!“

Der Text und die Fotos stam­men von Lena Reich. Der Bei­trag ist zuerst im Kiez­ma­ga­zin Sol­di­ner, Aus­ga­be Dezem­ber 2016, erschie­nen. Wir über­neh­men den Text unse­res Koope­ra­ti­ons­part­ners, der Bür­ger­re­dak­ti­on im Sol­di­ner Kiez. Mehr Infos dazu ste­hen auf dem Redak­ti­ons­blog www.dersoldiner.wordpress.com

Dominique Hensel

Dominique Hensel lebt und schreibt im Wedding. Jeden zweiten Sonntag gibt sie hier den Newsüberblick für den Stadtteil. Die gelernte Journalistin schreibt für den Blog gern aktuelle Texte - am liebsten zu den Themen Stadtgärten, Kultur, Nachbarschaft und Soziales. Hyperlokal hat Dominique es auf jeden Fall am liebsten und beim Weddingweiser ist sie fast schon immer.

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