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Home Sweet Home: Reifeprüfung

4. Mai 2020

Als Kon­rad von der Arbeit kam, setz­te er sich zu uns an den Tisch, an dem die Kin­der gera­de bei­de noch mit Schul­auf­ga­ben beschäf­tigt waren und fing an, zu plaudern.Habt Ihr schon gehört – das Abitur soll jetzt staat­lich ver­bes­sert wer­den, wenn der dies­jäh­ri­ge Durch­schnitt schlech­ter aus­fällt als der, der letz­ten zwan­zig Jahre.Es ist exakt die­se Art von Haus­auf­ga­ben­be­treu­ung, die mir am Tag fehlt, wenn Kon­rad weg ist. „Iro­nie off“. Ich bat ihn also sol­che The­men zu ver­mei­den, denn völ­lig egal, wer was ver­bes­sert oder was jetzt auch immer pas­siert: Es wird ein Leben nach und mit dem Virus geben, es wird eine Zukunft geben und die­ses beknack­te Abitur auch. Inzwi­schen schrei­ben sie ja nun auch schon die Klau­su­ren – für die sie immer noch ler­nen müs­sen! Neben­bei bemerkt, fin­de ich, hät­te ich höchst­selbst das Abitur ehren­hal­ber ver­dient für das, was ich an Haus­auf­ga­ben, Hil­fe zur Selbst­hil­fe, Klas­sen­fahr­ten, Som­mer­fes­ten, Weih­nachts­fei­ern, Lese­pa­ten­schaf­ten, Nase put­zen, Wut­an­fäl­le ertra­gen, Plus­quam­per­fekt erklä­ren, Inhalts­ver­zeich­nis­sen in Schnell­hef­tern ord­nen und Betreu­ung im All­ge­mei­nen geleis­tet habe! Hat­te ich das schon mal erwähnt? Ich fin­de, ich hab ein Recht auf die Reifeprüfung!

Apro­pos Rei­fe: Als ich Kon­rad riet, die Kids bes­ser nicht wei­ter abzu­len­ken und zu demo­ra­li­sie­ren, ver­ließ er gereizt, laut stöh­nend den Raum. Ja, Kon­rad kann das mit der lösungs­ori­en­tie­ren, posi­ti­ven Gesprächs­füh­rung. Gut, dass wir im Wed­ding woh­nen, hier sind die Leu­te eini­ges gewohnt. Ich ließ ihm sei­ne fünf Minu­ten, ver­such­te Ben dazu zu krie­gen, trotz Aus­sicht auf ein staat­lich ver­bes­ser­tes Abitur sei­ne Auf­ga­ben zu been­den und ging zu Kon­rad, um ihm zu erklä­ren, dass ich wirk­lich den hal­ben Tag damit beschäf­tigt bin, die bei­den Puber­tie­re a) drin­nen, b) fern von ihren Freun­den und c) bei Lau­ne zu hal­ten, als er auf die Idee kam, mir zu erör­tern, wor­in das Grund­pro­blem bestand: DU woll­test doch die Kin­der! – Jaaaaaa, natür­lich. Ich nun wie­der! Und selbst­ver­ständ­lich ist der arme Herr von und zu Sys­tem­re­le­vanz nicht an sol­chen Ent­schei­dun­gen betei­ligt. Naaaaain, die schul­di­ge Anke braucht kei­nen Part­ner, die schul­di­ge Anke kann Kin­der völ­lig allein mit Hil­fe der „Macht“ her beor­dern. Wohl ein Jedi ich bin. Ver­soh­len ich ihm den Hin­tern gern wür­de. Dum­mer­wei­se reagie­ren Män­ner um die 50 nur sehr schwach auf der­art dras­ti­sche Maßnahmen.

Eiskult Kaffeetasse CappucchinoIch ent­schied mich diplo­ma­tisch und ging wort­los in die Küche, um einen Kaf­fee zu kochen und mei­nen Gedan­ken nach­zu­hän­gen. Kaf­fee ist immer gut. Für den Bruch­teil einer Sekun­de medi­tier­te ich über der Fra­ge, ob vier Löf­fel Pul­ver wohl zu stark wären, wenn ich ihm den Kaf­fee samt Ther­mos­kan­ne an den Kopf… aber las­sen wir das. Wenigs­tens ist Kon­rad zu Hau­se. Ich muss­te lachen. So hat­te ich mir das alles nicht vor­ge­stellt. Kann ich ahnen, dass ein klei­nes Stoß­ge­bet um etwas mehr Zeit mit der Fami­lie rei­chen wür­de, um die Erde anzu­hal­ten, 8 Mil­li­ar­den Men­schen nach Hau­se zu schi­cken und uns unse­re Fami­li­en und Urängs­te gründ­lich um die Ohren zu hau­en? Nächs­tes Mal bete ich um eine Vil­la am Strand. Was ist nur mit der Welt los? Alle Men­schen müs­sen glei­cher­ma­ßen zu Hau­se blei­ben, egal ob krank oder gesund, egal ob alt oder jung. Nur die „Sys­tem­re­le­van­ten“ dür­fen noch zur Arbeit gehen, nur die, die unser Leben im All­tag auf­recht erhal­ten. Dan­ke dafür! Jetzt erwacht ganz lang­sam wie­der das Leben und mit dem Erwa­chen die Angst vor neu­en Erkran­kun­gen und irgend­wann selbst betrof­fen zu sein. Vor eini­gen Mona­ten noch war unse­re Erde dabei, zu ver­bren­nen, der Müll in den Mee­ren nahm der­art ver­hee­rend zu, dass selbst in den Tie­fen des Oze­ans Plas­tik zu fin­den war und das fand sich auch in den Fischen, die wir zum Mit­tag essen sollten!Unsere Böden wur­den der­art über­säu­ert, dass die Nitrit­wer­te im Trink­was­ser vie­ler­orts erheb­lich stie­gen. Die Krie­ge und Armut wüte­ten so schlimm in den von uns wenig beach­te­ten Län­dern, dass Men­schen dort kei­ne Wahl mehr hat­ten, als die Flucht anzu­tre­ten. „Wirt­schafts­flücht­ling“ wur­den die­se Men­schen hier ver­ächt­lich genannt. Hier bei uns ist heu­te kein Krieg.

Wir haben ein Zuhau­se, medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung, ein kusche­li­ges Bett, ein war­mes Sofa, wei­che Decken, wir haben Strom, Tele­fon, Inter­net, mehr als aus­rei­chend Essen und Toi­let­ten­pa­pier. Und trotz­dem kam es hier­zu­lan­de zu Prü­gel­sze­nen in Super­märk­ten um die letz­te Dose Ravio­li. Mögen wir die­se Ver­zweif­lung nie­mals ver­ges­sen und in Zukunft ver­ständ­nis­vol­ler mit Geflüch­te­ten umge­hen! Über­haupt gibt es eini­ges, von dem ich mir wün­sche, an das wir in Zukunft den­ken werden.Wir sind eigent­lich alle ganz net­te Leu­te. Oder bin ich total naiv? Nach­dem wir die ers­ten Tage der Angst und Hams­ter­käu­fe über­wun­den hat­ten, fan­den wir uns soli­da­risch zusam­men. Das ist doch toll! Es gibt plötz­lich Whats­ap­p­grup­pen und Tele­fon­kon­fe­ren­zen von Nach­barn, Bekann­ten, von gan­zen Kir­chen­ge­mein­den und täg­lich mit­ein­an­der beten, plau­dern, ein­an­der teil­ha­ben las­sen am All­tag, Rat suchen und geben. Wir ach­ten auf unse­re betag­ten und ein­sa­men Nach­barn, kau­fen für sie mit ein. Wir haben unter unse­ren Mas­ken und in 2 Meter Ent­fer­nung lie­be Wor­te und ein Lächeln, das wir durch unse­re Augen sicht­bar machen, fra­gen Frem­de an der Bus­hal­te­stel­le, wie es ihnen gin­ge. Vie­le sin­gen abends auf dem Bal­kon, klat­schen um 19:00 gemein­sam, jog­gen gemein­sam durch den­Park oder hel­fen am Tele­fon bei den Haus­auf­ga­ben der Kin­der, wenn die Allein­er­zie­hen­de Mama von gegen­über sich mal nicht zwei­tei­len kann. Wir sind gute Men­schen und zwar unab­hän­gig vom Alter, Geschlecht oder unse­rer Kul­tur. Das hat die­se Kri­se doch auch gezeigt. Bit­te erhal­ten wir uns das. Den­ken wir in Zukunft dar­an, dass ein Lächeln viel bedeu­tet, dass Soli­da­ri­tät immer gefragt ist und nicht nur im abso­lu­ten Not­fall. Die sozia­le Käl­te in unse­ren Rei­hen war vor Coro­na oft uner­träg­lich. Kaum dass man im Haus­flur ein lei­ses „Tag“ gemur­melt hat, wenn man am unlieb­sa­men Nach­barn vor­bei kam. Fami­li­en, die über Jah­re hin­weg kein Wort mehr mit­ein­an­der wech­sel­ten, es gab schon vor­her vie­le sehr ein­sa­me alte Men­schen. Unse­re Erde ist 2019 ver­brannt, die Ver­schmut­zung der Luft, des Was­sers und der Erde selbst war uner­träg­lich gewor­den, die Aus­beu­tung der Boden­schät­ze und der Men­schen in einer Art Hier­ar­chie, wobei den Ärms­ten noch das genom­men wur­de, was sie sich bit­ter erar­bei­te­ten, um uns hier Klei­dung und Wohl­stands­ge­gen­stän­de bil­lig zu beschaf­fen war eine ein­zi­ge, fürch­ter­li­che Schan­de. Dahin möch­te ich nicht mehr zurück. Dann doch lie­ber weni­ger kau­fen, dafür qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ger, nicht von Kin­dern gefer­tigt und bit­te zu einem Preis, der es dem Arbei­ter ermög­licht, wie wir hier auch zu essen, zu woh­nen und in den Urlaub zu fahren.Überhaupt Urlaub: Ob ich die­ses Jahr noch an mein gelieb­tes Meer kom­me? Ob ich die­ses Jahr mei­nen gelieb­ten Wed­ding ver­las­se, um eini­ge Tage alles, was ich hier zu Hau­se im Home­of­fice, Home­schoo­ling, Home sweet Home-Haus­ar­rest zu verarbeiten?

Will ich das? Es geht uns gut hier. Wir haben Parks, Gär­ten, Bal­ko­ni­en, unse­re Nach­barn, Freun­de, Bekann­te und Fami­li­en auf dem Han­dy, wir haben Emp­fang! Und die Eis­die­le um die Ecke, syri­sches Bak­la­va, ita­lie­ni­sche Fein­kost, den Wochen­markt auf dem Leo …Nee, wir machen Urlaub auf der Mül­lerstra­ße. Aber jetzt erst mal einen Kaffee!

Autorin: Anke von Eckstaedt

Gastautor

Als offene Plattform veröffentlichen wir gerne auch Texte, die Gastautorinnen und -autoren für uns verfasst haben.

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