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Kutschi: Einflugschneise in den nördlichen Wedding

13. Januar 2018
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Die­ser wich­ti­ge Ver­kehrs­kno­ten­punkt liegt zwar nicht im Wed­ding, aber so der­ma­ßen haar­scharf an der Bezirks­gren­ze, dass auch vie­le Wed­din­ger dort umstei­gen, ein­kau­fen oder essen gehen. Klar, dass wir vom Wed­ding­wei­ser den Kurt-Schu­ma­cher-Platz in Rei­ni­cken­dorf nicht igno­rie­ren kön­nen. Seit jeher ver­kür­zen die Ber­li­ner sei­nen sper­ri­gen Namen zu Kut­schi. Klingt ein biss­chen schnodd­rig und ein wenig lieb­los. Aber es sagt bereits alles dar­über, wie die­ser Platz wahr­ge­nom­men wird.

Dabei gibt es hier etwas Beson­de­res zu erwäh­nen: Ein­ma­lig in Deutsch­land ist die Tat­sa­che, dass Flug­zeu­ge direkt über den wuse­li­gen Platz und somit über die Köp­fe unzäh­li­ger Men­schen in nur 150 bis 200 Meter Höhe don­nern*. Das ist für Besu­cher und Orts­frem­de manch­mal irri­tie­rend, denn es ist kaum zu glau­ben, dass die­ser ohren­be­täu­ben­de Irr­sinn hier All­tag ist. Für die Orts­an­säs­si­gen ist es ganz nor­mal, das  Gespräch kurz zu unter­bre­chen und nach ein paar Sekun­den wie­der zur Tages­ord­nung über­zu­ge­hen. Für Flug­zeug­fans hin­ge­gen ist es die Gele­gen­heit, ver­schie­de­ne Flug­zeug­ty­pen und ‑lackie­run­gen aus nächs­ter Nähe zu sich­ten. Am meis­ten Gän­se­haut ver­ur­sacht dies bei­spiels­wei­se auf dem obe­ren, offe­nen Park­decks des Ein­kaufs­zen­trums, von dem aus das Lan­de­ma­nö­ver mit Blick auf die Lan­de­bahn beob­ach­tet wer­den kann.

Der Versuch, aus einer Kreuzung einen Platz zu machen

Quel­le: Lan­des­ar­chiv Baden-Würt­tem­berg; Wil­ly Pragher

Bis in die Fünf­zi­ger­jah­re war der Platz nur eine unschein­ba­re Kreu­zung zwi­schen der Ber­li­ner (heu­te Ollen­hau­er-) und der Scharn­we­ber­stra­ße. Als dann 1956 die U‑Bahn-Ver­län­ge­rung ab der See­stra­ße bis zum Kurt-Schu­ma­cher-Platz eröff­net wur­de, ver­band man die Ollen­hau­er­stra­ße mit dem Span­dau­er Weg (heu­te Kap­weg) und schuf dadurch eine durch­ge­hen­de Nord-Süd-Ach­se. Ganz modern wur­de auch eine Hoch­stra­ße ent­lang die­ser auto­ge­rech­ten Schnell­ver­bin­dung gebaut, die den neu­en Platz kreu­zungs­frei über­quer­te. Der Platz selbst wur­de mit einer typi­schen Fünf­zi­ger­jah­re­be­bau­ung auf der Nord­sei­te ver­se­hen, die bis heu­te unein­heit­lich wirkt. Dort gibt es Cafés, Ban­ken und auch eini­ge Arztpraxen.

In den Acht­zi­ger­jah­ren wur­de die häss­li­che Hoch­stra­ße abge­baut und der eigent­li­che Platz ganz im post­mo­der­nen Stil gestal­tet. Rank­git­ter und Brun­nen zeu­gen von dem – geschei­ter­ten – Ver­such, die ver­kehrsum­tos­te Kreu­zung zu einer Piaz­za umzu­bau­en. 1988 eröff­ne­te auf der Süd­ost­ecke des Plat­zes unter Ein­be­zie­hung des U‑Bahn-Ein­gangs ein klei­nes Ein­kaufs­zen­trum namens Der Clou, das man nicht wirk­lich als ein Shop­ping­pa­ra­dies bezeich­nen kann. Immer­hin gibt es dort eine Post, einen Elek­tronik­markt, ein Schuh­cen­ter, einen gro­ßen Lebens­mit­tel­la­den, eine Filia­le einer gro­ßen Mode­ket­te sowie ein paar klei­ne­re Läden. Ori­gi­nel­les oder Ein­ma­li­ges gibt es in den vie­len aus­tausch­ba­ren Gewer­be­flä­chen am Kut­schi auf jeden Fall nicht.

Absolut uninspiriert

Ein wirk­lich urba­ner Ort ist die gan­ze Gegend jeden­falls nicht gewor­den. Vor allem auf der Süd­west­ecke lässt sich der pro­vi­so­ri­sche Nach­kriegs­cha­rak­ter des Kut­schis mit nied­ri­gen, abso­lut unin­spi­rier­ten buden­ar­ti­gen Flach­bau­ten ohne jede archi­tek­to­ni­sche Qua­li­tät noch gut erle­ben. Das Gef­ri­ckel ver­schie­de­ner Epo­chen der Nach­kriegs­zeit bil­det hier ein ganz und gar unstim­mi­ges Gesamt­bild. Zuge­ge­ben: Der Platz erfüllt sei­ne Funk­ti­on für vie­le Tau­send Nord­ber­li­ner, sonst nichts. Er ist ein­fach ein wich­ti­ger Kreu­zungs­punkt für den Stra­ßen­ver­kehr, ein Umstei­ge­bahn­hof vom und zum Flug­ha­fen­bus und ein klei­nes Nah­ver­sor­gungs­zen­trum für die umlie­gen­den Kieze. Um den zugi­gen Kut­schi her­um gibt es kaum rich­ti­ge Bewoh­ner. Dafür eine Kaser­ne, einen Bau­markt, Gewer­be­ge­bäu­de, Tank­stel­len, eine Bus­ab­stell­an­la­ge, Fast­food­fi­lia­len, Fried­hö­fe und dazwi­schen einen nicht enden wol­len­den Strom von Autos. Das alles macht aus einer Kreu­zung eben kei­nen Ort, wo man sich ger­ne län­ger auf­hält. Das ist Vor­stadt-Fee­ling pur, das so gar nichts von Ber­lin hat, son­dern genau­so­gut im Ruhr­ge­biet oder am Stadt­rand von Ham­burg erleb­bar sein könn­te. Des­we­gen gibt es hier auch kein schi­ckes Café, kein Künst­ler­ate­lier und auch kei­ne Nachbarschaft.

* Im Novem­ber 2020 ende­te der Flug­be­trieb in Tegel.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

5 Comments

    • Das Doree­dos am Kut­schi gibt es noch (Stand Anfang Juni 2019) und es herrscht oft reger Betrieb. Auf der Nord­west­ecke des Plat­zes gibt es wei­ter­hin einen tol­len Ita­lie­ner und ein im Som­mer gut besuch­tes Eis­ca­fe mit Blick auf die Piaz­za-arti­gen Rank­git­ter. Beson­ders zur Rush-Hour gibt es hier Ver­kehr am Boden und in der Luft zu “bewun­dern”.
      Ein Neu-Reinickendorfer.

  1. Es gibt in der Nähe des Kut­schi, Scharn­we­ber Str. 159, aber doch etwas Beson­de­res. Näm­lich das SUZ, Schul­um­welt­zen­trum, Gar­ten­ar­beits­schu­le Wed­ding. Auf die­sem Gelän­de mit sei­nen vie­len Bee­ten und Bäu­men fin­det man die ein­zi­ge Sand­dü­ne inner­halb Ber­lins, die u.a. vom NABU bear­bei­tet und geschützt wird. Von der Düne aus hat man einen (schreck­li­chen) Aus­blick auf unter ande­rem das “Bau­haus” am Kut­schi und man kann neben der Boden­be­ar­bei­tung auch inter­es­san­te Flug­zeu­ge sehen. Die­se Mischung ist wirk­lich typisch für den nörd­li­chen Wedding.

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