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Obdachlosenhilfe – Warum mache ich das eigentlich?

26. März 2016
Der umgestaltete Leopoldplatz
Der umge­stal­te­te Leopoldplatz

Ein Sams­tag­mor­gen im Herbst, 7.30 Uhr – ich fah­re gera­de in Rich­tung Leo­pold­platz. Vor dem ehe­ma­li­gen Bür­ger­amt liegt mit­ten auf dem Fuß­weg ein Mann. Ein Obdach­lo­ser. Mit dem Gesicht nach unten. Zwei Män­ner von der Ber­li­ner Stra­ßen­rei­ni­gung gehen zu ihm; er reagiert jedoch nicht, ver­mut­lich liegt er da schon eine Wei­le regungs­los. Einer der Män­ner greift zum Han­dy und tele­fo­niert, ruft wahr­schein­lich Not­arzt oder Poli­zei. Sze­nen, die man in Ber­lin eigent­lich tag­täg­lich sieht und trotz­dem scho­ckie­ren sie immer wie­der. Mich jedenfalls.

Vie­le Leu­te lau­fen dar­an vor­bei – wol­len es nicht sehen, oder neh­men es auch tat­säch­lich gar nicht mehr wahr. Doch eini­ge Leu­te schau­en nicht weg; hel­fen sogar. Eine Orga­ni­sa­ti­on, die sich unter ande­rem am Leo­pold­platz sol­chen Men­schen wid­met, ist die Ber­li­ner Obdach­lo­sen­hil­fe. Der Ver­ein hat sei­nen Sitz in der Butt­mann­stra­ße 1A im Wedding.

Am 23.12.2013 erfah­re ich das ers­te Mal davon. Bei Face­book lese ich einen Tag vor Hei­lig­abend, dass man sich dort trifft, um zu kochen und danach das Essen an Bedürf­ti­ge zu ver­tei­len. Seit Jah­ren kann ich dem gan­zen Weih­nachts-Tam­tam nichts mehr abge­win­nen. Zum ers­ten Mal seit fast zwei Jahr­zehn­ten ver­ste­he ich wie­der den Sinn dar­in: Leu­ten zu hel­fen, für ande­re da zu sein, etwas Gutes zu tun. Ich quä­le mich am 24.12. um 13.30 Uhr noch durch den vol­len Super­markt, der in einer hal­ben Stun­de schlie­ßen wird. Sämt­li­che Weih­nachts­sü­ßig­kei­ten sind auf Cent­be­trä­ge redu­ziert. Ich ver­die­ne selbst nicht groß, habe aber aus irgend­ei­nem Grund das Bedürf­nis, auch die letz­ten Reser­ven mei­ner Geld­bör­se zu plün­dern und kau­fe alles, was geht. Gegen 16 Uhr sit­ze ich mit Frem­den am Tisch, schmie­re Bro­te, koche Sup­pe und bin gespannt, was noch auf mich zukommt.

(c) Obdachlosenhilfe Berlin
© Obdach­lo­sen­hil­fe Ber­lin auch im Wedding

17 Uhr Abfahrt – Rich­tung Leo. Die Tou­ren lau­fen immer ähn­lich ab. Ich habe noch 2 Win­ter­ja­cken, die ich seit Jah­ren nicht mehr anzie­he und eben­falls spen­den möch­te. Am Leo­pold­platz war­ten vie­le Men­schen … hung­ri­ge Men­schen … in der Win­ter­käl­te frie­ren­de Men­schen. Mei­ne Jacke ist nach weni­gen Minu­ten ver­grif­fen. Der Sup­pen­topf wird lee­rer und lee­rer. Ich rei­che einem Mann Mit­te 40 ein Bröt­chen. Er klärt mich aller­dings schnell auf, dass ich es zu gut gemeint habe: „Schneck­chen, is lieb jemeint, aber dit kann ick nich essen! Hab doch kaum noch Zäh­ne!“ Wie­der was gelernt, obwohl es so logisch und offen­sicht­lich ist. Mei­ne Weih­nachts­scho­ko­la­de wird aller­dings dan­kend ange­nom­men. „Dit is jut, dit kann ick lut­schen!“ Mei­ne zwei­te Jacke wird anprobiert.

Ich ste­he scho­ckiert da: Eine schwan­ge­re Frau, wahr­schein­lich sogar jün­ger als ich selbst, ver­liebt sich sofort in die Jacke, bekommt sie aber wegen des dicken Bau­ches nicht zu. Ich bin fas­sungs­los bei dem Gedan­ken, dass sie auf der Stra­ße über­nach­ten wird. Vie­le erzäh­len mir, dass sie seit Jah­ren dro­gen­ab­hän­gig sind, dass sie von ihren Frau­en ver­las­sen wur­den, ihren Job ver­lo­ren haben oder aus wel­chen Grün­den auch immer hier gelan­det sind. Die Grün­de sind mir am Ende eigent­lich egal. Ich bin nach kur­zer Zeit ein­fach nur fix und alle. Der Alko­hol- und Obdach­lo­sen­ge­ruch, die Käl­te, die sich schon nach nur einer Stun­de in mei­ne Bei­ne frisst…. Ich will nur nach Hau­se und bin nun von einer Sekun­de auf die ande­re über­glück­lich, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, dass ich zu Hau­se die Hei­zung andre­hen und mich in die Wan­ne legen kann. Alles Din­ge, die die­se Men­schen nicht tun kön­nen. Und doch gehe ich mit einem Glücks­ge­fühl ins Bett – ich habe gehol­fen! Auch, wenn das nur eine Klei­nig­keit war, so sind es eben genau die­se Din­ge, die zählen!

Seit­her habe ich immer wie­der gehol­fen – ent­we­der bei wei­te­ren Tou­ren mit­ge­macht oder im Vor­feld Stul­len geschmiert und Gemü­se geschnip­pelt; Kla­mot­ten gesam­melt oder Plätz­chen geba­cken. Die letz­ten Wochen habe ich wie­der kräf­tig Klei­nig­kei­ten zur Sei­te gelegt: habe in Hotels die kos­ten­frei­en Kos­me­tik­pro­ben nicht selbst genutzt, son­dern mit­ge­nom­men, im Super­markt 20–30 Zahn­bürs­ten, Deo­rol­ler, Taschen­tü­cher und Ohren­stäb­chen gekauft, all dies mit Oster­scho­ko­la­de in Tüt­chen gepackt und den fes­ten Wil­len gehabt, es vor Ostern bei der Ber­li­ner Obdach­lo­sen­hil­fe vor­bei­zu­brin­gen, damit sie es verteilen.

(c) Berliner Obdachlosenhilfe
© Ber­li­ner Obdach­lo­sen­hil­fe auf Tour

Doch heu­te Mor­gen ver­ab­schie­de­te sich plötz­lich die­ses Gefühl der Hilfs­be­reit­schaft: Auf dem Weg zur Arbeit, um 5.30 Uhr am Mor­gen, wur­de ich aufs Übels­te von einem Obdach­lo­sen beschimpft und beläs­tigt. Er kam schwan­kend in mei­ne Rich­tung, rief mir hin­ter­her, dass ich „ruhig weg­lau­fen soll, es wür­de mir jedoch nichts brin­gen“. Ich griff sofort zum Han­dy, wähl­te die 110, war mir sicher, dass die­se Situa­ti­on nicht gut aus­ge­hen wird und ich in weni­gen Sekun­den eine Bier­fla­sche im Nacken haben wer­de. Zum Glück ging die Situa­ti­on aber gut aus, da ich nur weni­ge Meter von mei­nem neu­en Arbeit­ge­ber, der sich iro­ni­scher­wei­se gegen­über einer Poli­zei­wa­che befin­det und auch erst neu­lich viel Geld an die Käl­te­hil­fe gespen­det hat, ent­fernt war und zudem sehr viel schnel­ler als der voll­trun­ke­ne, grau­bär­ti­ge Mann. Aber ich hat­te Angst – gro­ße Angst. Und schon kur­ze Zeit spä­ter frag­te ich mich: War­um hel­fe ich sol­chen Leuten?

Die Ant­wort gab mir spä­ter ein Freund, der mein­te: „Das war einer von vie­len! Es gibt etli­che Men­schen, die sich über dei­ne Hil­fe freu­en.“ Und er hat Recht. Denn die­ses Schub­la­den­den­ken über sol­che Men­schen kommt gera­de in letz­ter Zeit zu oft vor. Im Klei­der­schrank haben wir in einer Schub­la­de die Socken, in der nächs­ten die Unter­wä­sche; im Fach dar­über Shirts und Hosen. Und so wer­fen wir auch Men­schen­grup­pen in Käs­ten – ob Flücht­lin­ge, Obdach­lo­se, Arme oder Rei­che. Aber nicht alle Leu­te sind so; seit fast 2 ½ Jah­ren habe ich nun gute Erfah­run­gen in der Obdach­lo­sen­hil­fe gesam­melt und die heu­ti­ge Situa­ti­on bleibt hof­fent­lich eine Aus­nah­me. Denn als Dan­ke­schön für Hilfs­be­reit­schaft bekommt man in min­des­tens 90% der Fäl­le unend­lich viel Dank­bar­keit zurück! Und somit freu­en sich die Bedürf­ti­gen hof­fent­lich auch über die klei­nen Ostergeschenke…

Autorin: Annett Preusche

Gastautor

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