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Johannes Ehrmann blickt von oben auf den Wedding

11. März 2016
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"Großer Bruder Zorn" von Johannes Ehrmann. Grafik: Eichborn Verlag.
“Gro­ßer Bru­der Zorn” von Johan­nes Ehr­mann. Gra­fik: Eich­born Verlag.

“Schau­dernd lege ich mich wie­der schla­fen.” Über die­sen Satz kann man sagen, dass er kurz ist und dass er ein Satz ist. Er stammt aus Hei­ko Wer­nings Buch “Mein wun­der­ba­rer Wed­ding” (2010), ein Buch mit Lese­büh­nen­tex­ten aus dem Wed­ding. In Johan­nes Ehr­manns Buch “Gro­ßer Bru­der Zorn” (Ver­kaufs­start heu­te) steht zum Bei­spiel das Gefü­ge: “Ihre letz­ten drei Wor­te.” Das ist auch kurz, aber es ist kein voll­stän­di­ger Satz. Und das Buch “Gro­ßer Bru­der Zorn” spielt zwar im Wed­ding, aber es ist kein Roman aus dem Wed­ding, mehr ein Roman über den Wed­ding. Also Außen­be­trach­tung. Oder wie es im Klap­pen­text heißt: “Johan­nes Ehr­mann lebt am Ran­de des Wed­dings” (Mar­ke­ting­deutsch für: nicht im).

Das Buch “Gro­ßer Bru­der Zorn” hat etwas gemein­sam mit der Kunst­fi­gur Sido. Für die jün­ge­ren: Sido ist ein Sän­ger, der ein­mal ein Rap­per war. Der Wan­del vom Rap­per zum Sän­ger kam von außen, Sido selbst ist sich über die Jah­re treu geblie­ben. Und – jetzt kommt es – Sido sang (oder rapp­te) ein­mal über das Mär­ki­sche Vier­tel. Doch besuch­te dann der Musik­lieb­ha­ber auf­grund des Songs “Mein Block” das Mär­ki­sche Vier­tel, so fand er einen Base­ball-Ver­ein, der in der Bun­des­li­ga spielt, er fand vie­le Erst­mie­ter, die seit 1960 auf eine U‑Bahnstation in ihrem Kiez war­te­ten, er fand einen gro­ßen Kin­der­bau­ern­hof. Kurz: Er fand das beschau­li­che Leben einer Klein­stadt. In der es halt auch her­un­ter­ge­kom­me­ne Typen gibt.

Johannes Ehmann. Foto Manfred Esser.
Johan­nes Ehmann. Foto Man­fred Esser.

Johan­nes Ehr­mann und Sido haben gemein­sam, dass bei­de über ein Vier­tel mit kras­sen Typen tex­ten. Und bei­de ach­ten genau dar­auf, dass sich nicht zu viel Wirk­lich­keit zwi­schen die Zei­len schiebt. Es geht um Typen, nicht um viel­schich­ti­ge Figu­ren. Die Figu­ren des Romans ste­hen, wie man so dahin­sagt, auf der sozia­len Lei­ter ganz unten. Unaus­ge­spro­chen sagt man damit, es sei ein Gesetz, dass das Leben ein Hin­auf­klet­tern zu sein habe. In Ehr­manns Roman leben die kras­sen Figu­ren nicht im Mär­ki­schen Vier­tel, sie leben im Wed­ding. Am Bellermannplatz.

Im ehe­ma­li­gen Bezirk Wed­ding gibt es eine Bel­ler­mann­stra­ße, einen Bel­ler­mann­platz gibt es im Wed­ding nicht. Auch nicht im Gesund­brun­nen. Und es gibt auch kei­ne Amt­mann­stra­ße. Aber es gibt das Flüß­chen Pan­ke, die Schul­stra­ße, den Leo­pold­platz, das gro­ße Arbeits­amt. Die­se ört­li­chen Details muss man erklä­ren für alle die Leser, die den Wed­ding nicht so genau ken­nen. Denn für die ist das Buch geschrie­ben. Die wer­den mit dem Buch woh­lig erschau­ern. Wie bei einem Tat­ort, wo plötz­lich eine Rocker­ban­de auf­taucht. Und die sorgt dann für die­sen Gute-Nacht-Gru­sel. Nur an den gepfleg­ten Bär­ten der fins­te­ren Typen ist zu erken­nen: Es sind bloß Schau­spie­ler. Auch bei Ehr­mann kom­men übri­gens motor­rad­fah­ren­de Rocker vor. Ihr Chef heißt Wikin­ger. Klar.

Viel­leicht ist das bereits das pas­sen­de Gesamt­ur­teil über das Buch. Johan­nes Ehr­mann hat ein Buch in der Tat­ort-Liga geschrie­ben. Und das ist ja schon auch etwas. Oder: Das ist ja schon gar nicht so wenig. Ehr­mann hat mit Kolum­nen über den Wed­ding den Theo­dor-Wolff-Preis (2014) gewon­nen und er hat 2013 den Grim­me Online Award gewon­nen für sei­ne Sicht auf das Fuß­ball­ge­sche­hen in die­sem Land. Wie der Tat­ort für die Zuschau­er gemacht ist, die gera­de nicht in der Stadt leben, in der die Epi­so­de spielt, so schreibt auch Ehr­mann für die Leser der Repu­blik. Nicht für den Wed­din­ger. Leser im Wed­ding fra­gen sich wie der Tat­ort­zu­schau­er: Wo bleibt denn nun mein Kiez?

“Gro­ßer Bru­der Zorn” ist ein Roman in hal­ben Sät­zen über das Schei­tern. Ein viel zu oft zu abschät­zig behan­del­tes The­ma. In der Markt­wirt­schaft ist Schei­tern All­tag. Die­ser Satz darf zwei­mal gele­sen wer­den. Dann gelingt es, Schei­tern ein­fach als Schei­tern zu neh­men. So wie man sich ja auch nicht schämt, wenn man beim Mensch-Ärge­re-Dich-nicht ver­liert. Obwohl: Man­che tun dies und spie­len das Spiel dann nie wie­der. Ein sol­ches Weg­du­cken geht im ech­ten Leben nicht. Da macht dann Ehr­manns Figu­ren doch sympha­tisch. Sie ducken sich nicht weg.

Trotz Ehr­manns ver­kürz­ter Sät­ze und sei­nes Blicks von außen auf den Wed­ding ist ihm in der Figur des Fla­schen­fa­scho etwas gelun­gen. Etwas, was aus einer Text­an­samm­lung einen Roman macht. Das Beson­de­re. Viel­leicht eben gera­de weil es kei­ne Figur aus dem Wed­ding ist. Der Fla­schen­fa­scho ist ein Typ aus dem Über­all und Nir­gends. Die Figur erzählt dem Leser nichts über das Leben im Wed­ding im Jahr 2016. Denn das ist ja das Wun­der­ba­re an Büchern. Gute Bücher tun so, als ob sie von einem kon­krek­ten Ort in einer kon­kre­ten Zeit berich­ten. Aber eigent­lich wol­len sie den Leser ent­füh­ren nach … – ja wohin eigent­lich? Zu sich selbst? Ent­füh­ren sie in eine Welt, die man nicht ent­spannt von außen betrach­tet, son­dern in der man sich selbst ent­deckt? Genau dort­hin bringt einen unbe­merkt der Fla­schen­fa­scho. Der Rest des Buches ist – viel­leicht not­wen­di­ge? – Zutat.

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Web­sei­te von Johan­nes Ehrmann
Ehr­manns ers­ter Roman “Gro­ßer Bru­der Zorn” erscheint beim Eich­born Ver­lag, dem Ver­lag für kom­pa­ti­ble Unge­wöhn­lich­kei­ten, und kos­tet im Hard­co­ver 19,99 Euro.
Johan­nes Ehr­mann, Autor des Tagesspiegel

 

Text: And­rei Schnell, Gra­fik: Eich­born Verlag

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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