Mastodon
Aktualisiert

Seit 1904 an diesem Ort:
“Deichgraf”: Berlin wie es eigentlich ist

28. März 2015
8

„Das Welt­all ist unend­lich groß. Das ent­spricht der Grö­ße von unend­lich vie­len Fuß­ball­fel­dern.“ (Wolf­gang Herrn­dorf: Dies­seits des Van-Allen-Gürtels)

Foto: Samu­el Orsenne

Der Wed­ding ist, rein phy­si­ka­lisch betrach­tet, nicht unend­lich groß, aber er bie­tet eine unend­lich erschei­nen­de Viel­zahl von Mög­lich­kei­ten. Eine Mög­lich­keit, einen schö­nen Früh­lings­tag zu ver­brin­gen, ist ein Besuch des „Deich­graf“ am Nord­ufer. Es gibt einen gemüt­li­chen Bier­gar­ten, von dem man den Schif­fahrts­ka­nal sehen kann. Auf der ande­ren Sei­te des Kanals sind Indus­trie­an­la­gen, kein Aus­flugs­damp­fer schip­pert vor­bei. Die­ser Teil Ber­lins wur­de vom Tou­ris­mus bis­her ver­schont und der Gast kann die Ruhe am Was­ser genießen.

Deichgraf Biergarten

Das Gast­haus selbst ist ange­nehm unspek­ta­ku­lär und sym­pa­thisch mit sei­ner lan­gen Holz­the­ke und den in Wür­de alt gewor­de­nen Holz­ti­schen und –stüh­len. Hier ist Ber­lin wie es eigent­lich ist. Kei­ne Tou­ris­ten, kei­ne Sehens­wür­dig­kei­ten, nor­ma­le Men­schen mit Ber­li­ner Dia­lekt bei Kaf­fee und Bier. 1904 wur­de das Lokal gegrün­det und zu sei­nem hun­dert­jäh­ri­gen Bestehen 2004 umfas­send reno­viert. Es gibt hier tra­di­tio­nel­le deut­sche Küche wie Königs­ber­ger Klop­se, Ber­li­ner Cur­ry­wurst und Schnit­zel , aber auch Gemü­se­schnit­zel und Flamm­ku­chen. Dane­ben gibt es zu Bier und Wein appe­tit­li­che Klei­nig­kei­ten. Die Küche ist bis 22 Uhr geöff­net. Die Por­tio­nen sind groß, die Prei­se – wie im Wed­ding üblich – überschaubar.

Wolf­gang Herrn­dorf, der berühm­te Schrift­stel­ler, des­sen Werk „Tschick“ Mil­lio­nen Leser gefun­den hat und das in 24 Spra­chen über­setzt wur­de, wohn­te am Nord­ufer. Der „Deich­graf“ war sein Stamm­lo­kal. So unauf­ge­regt wie in die­sem Gast­haus geht es im Wed­ding zu, den Herrn­dorf gegen die hip­pe Mit­te Ber­lins ein­ge­tauscht hat. Lei­der bekam er einen Hirn­tu­mor. Das Schrei­ben und Spre­chen fiel ihm von Tag zu Tag schwe­rer. Er hat den Krebs getö­tet, bevor der Krebs ihn töten konn­te. Am 26. August 2013 ist er am Nord­ufer aus dem Leben geschieden.

Autor: Mat­thi­as Eber­ling, kiezschreiber.blogspot.de

Deich­graf

Nord­ufer 10 , Ecke Torfstr.

Di-So 12 – 22 Uhr (Stand Jan. 2023)

Gastautor

Als offene Plattform veröffentlichen wir gerne auch Texte, die Gastautorinnen und -autoren für uns verfasst haben.

8 Comments

  1. Hat­te mich so auf ein Wie­ner Schnit­zel gefreut vom Kalb war es sicher aber lieb­los pam­ni­ert und gebra­ten, schade

  2. Der NEUE Deich­graf ist nicht mehr der ALTE Deichgraf:
    End­lich kei­ne ver­ranz­ten Tep­pi­che mehr!
    End­lich kein schlech­tes Essen mehr!
    End­lich kein Rau­cher­zim­mer mehr.
    End­lich das gute vege­ta­ri­sche Auber­gi­nen-Schnit­zel (schon nach fünf Minuten
    frisch aus der Mikro­wel­le serviert)
    Endlich…???
    Dafür ist es jetzt oft so voll, dass es schon wie­der unge­müt­lich laut ist.
    Tjaa.…
    Fünf Wed­din­ger Ster­ne von sechs mög­li­chen Wed­din­ger Sternen
    (Mann kann nicht alles haben).

  3. Der Deich­graf war lei­der noch nie der Hit ‚seit­dem aber der Besit­zer wech­sel­te geht es gar nicht mehr .
    Lan­ge wird der neue Besit­zer nicht durchhalten .
    Es sei denn , man steht dar­auf igno­riert zu wer­den und Bera­tungs­Re­sis­tenz zu sein !
    Nein, es ist nicht ein­mal schlecht gewe­sen . Aber beim drit­ten Mal , hat es uns dann gereicht .
    Wir sind dann gegen­über ins 65 gegangen .
    Super Ser­vice , Preis­leis­tung top …

  4. […] des Nord­ufers gut beob­ach­ten lässt. Rund um die Kreu­zung gibt es mit dem tra­di­ti­ons­rei­chen „Deich­graf“, dem „Fünf­und­sech­zig“ und dem „Café Aus­zeit“ zahl­rei­che Ein­kehr­mög­lich­kei­ten. Hier […]

  5. Hal­lo Mat­thi­as Eber­ling, ich kann dei­ne Moti­va­ti­on, Wolf­gang Herrn­dorf in das The­ma Deich­graf mit rein­zu­neh­men, ver­ste­hen. Wer sei­nen Blog “Arbeit und Struk­tur” ver­folgt hat, wuss­te, dass Herrn­dorf in sei­nem letz­ten Lebens­ab­schnitt am Nord­ufer wohn­te und gern in das Lokal ging. Was aber hat eine Gas­tro-Rezen­si­on, die von “Mäu­se­früh­stück”, “Mini-Bulet­ten” und dem “Ber­lin, wie es eigent­lich ist” schwärmt, mit Herrn­dorfs töd­li­cher Krank­heit, die ihn zuletzt am Schrei­ben und Spre­chen hin­der­te, zu tun? Ist es statt­haft, ein sol­ches The­ma an die­ser Stel­le anzu­rei­ßen? Der Fakt zu H.s Tod: Er hat sich am Hohen­zol­lern­ka­nal (Span­dau­er Schiff­fahrts­ka­nal) erschossen.

    • Ich bin Schrift­stel­ler und nur wegen Herrn­dorf bin ich ans Nord­ufer gegan­gen und in sei­ne alte Stamm­knei­pe. Ohne ihn hät­te ich den “Deich­graf” nie besucht. Daher kom­men bei­de in die­sem Arti­kel vor. Loka­le wie der “Deich­graf” sind für mich ein Spie­gel­bild des Wed­ding und ein Rest des alten Ber­lin, wie ich es von frü­her ken­ne – wer Hau­te cui­sine in edlem Ambi­en­te erle­ben will, muss in den Prenz­lau­er Berg oder nach Mit­te fahren. 

      Ich fin­de es durch­aus “statt­haft”, ein erns­tes The­ma in einem sol­chen Text zu erwäh­nen. Der Tod gehört zu unse­rem Leben, wir soll­ten ihn nicht scham­haft ver­ste­cken. Also hat auch die grau­sa­me Ver­gäng­lich­keit unse­rer Exis­tenz ihren Platz neben der Herr­lich­keit des Lebens an einem schö­nen Früh­lings­tag. Ein Jour­na­list wür­de den Arti­kel sicher anders schrei­ben – aber ich bin nun mal kein Jour­na­list. Und dar­über bin ich gera­de in die­sen Tagen heilfroh.

  6. Bei allem Ver­ständ­nis für anrüh­ri­ge Geschich­ten. Anfang die­sen Jah­res haben wir im Deich­graf u.a Grün­kohl geges­sen und eines ist klar, dass wir dort­hin nicht mehr essen gehen wer­den. Dazu ist der Laden auch nicht sau­ber, der Tep­pich­bo­den spe­ckig. Und eine Reno­vie­rung vor 9 Jah­ren heißt nur eins: Der Laden ist renovierungsbedürftig.

  7. Der Deich­graf ist lie­be­voll rup­pig beschrie­ben, so wie er ist. Herrn­dorfs Wech­sel nach Mit­te und sei­nen Hirn­tu­mor in einem Atem­zug zu nen­nen fin­de ich aller­dings etwas bedenklich.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

MastodonWeddingweiser auf Mastodon
@[email protected]

Wedding, der Newsletter. 1 x pro Woche



Unterstützen

nachoben

Auch interessant?