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Wedding-Jahresrückblick Juli 2014: Turnierverlauf

20. Dezember 2014

Alle zwei Tage öff­net sich hier im Wed­ding­wei­ser ein sati­risch-lite­ra­ri­sches Monats­tür­chen in das ver­gan­ge­ne Jahr mit der Wed­din­ger Lese­büh­ne Brau­se­boys. Alle Tex­te wer­den nach Erschei­nen auf der Sei­te “Wed­ding­rück­blick” gesam­melt.

JULI 2014 

Tur­nier­ver­lauf (von Hei­ko Werning)

1)
Fuß­ball inter­es­siert mich gar nicht. Wie mich gene­rell kein Sport inter­es­siert. Aktiv schon mal gar nicht, ist ja klar. Aber auch dem Zuschau­en kann ich nicht viel abge­win­nen. Aller­dings, und dar­auf lege ich Wert, nicht, weil ich Sport min­der­wer­tig fin­de oder pri­mi­tiv oder doof, son­dern aus dem­sel­ben Grund, war­um ich mich nicht für bil­den­de Kunst, Archi­tek­tur oder Mole­ku­lar­che­mie inter­es­sie­re – inter­es­siert mich halt nicht, so fas­zi­nie­rend und kom­plex all die­se Fel­der auch sein mögen. Wenn man sich dafür inter­es­siert. Mach ich aber nicht.

Aber die Gesell­schaft inter­es­siert mich. Und da ist, man kann es nicht leug­nen, Fuß­ball ein nicht ganz unwich­ti­ger Teil. Und wenn ein erheb­li­cher Teil der Welt­be­völ­ke­rung gleich­zei­tig auf den Fern­se­her guckt und die glei­chen Bil­der sieht, dann fas­zi­nie­ren mich die­se Bil­der schon des­halb. Und schon ist man in der Fal­le. Denn Fuß­ball, zumin­dest die gro­ßen Tur­nie­re, sind wie gro­ße Opern. Oder Sei­fen­opern. Egal. Man kennt bald die Akteu­re, die lus­tigs­ten Schieds­rich­ter, die gemeins­ten Blut­grät­scher, die tra­gischs­ten Ball­ver­tänd­ler, stän­dig gibt es gro­ße Emo­tio­nen, auf dem Platz, auf der Stra­ße, man kann sich dem nicht entziehen.

Dies­mal hat­te ich es mir vor­ge­nom­men. Ich lei­de gera­de unter einer gewis­sen Über­for­de­rung, ich habe ein paar zu vie­le lose Enden von Fäden in der Hand und ver­hed­de­re mich mit ihnen und kann doch kei­ne able­gen, da habe ich nicht auch noch Zeit, Stun­den um Stun­den sinn­los zu ver­bren­nen, weil ich zugu­cke, wie irgend­wel­che Leu­te sich gegen­sei­tig den Ball weg­hau­en, mit denen ich eigent­lich ja nichts zu tun habe, die für mich nur wie Figu­ren in einem Gro­schen­heft sind. Aber, wie gesagt, ganz ent­zie­hen kann und will ich mich dem auch nicht, und so ließ ich anfangs die Live-Ticker der Nach­rich­ten­sei­ten neben­her lau­fen, und bald im Hin­ter­grund die Spie­le, und bald saß ich doch wie­der davor. Kann man nichts machen.

2)
Man­gels eige­nen Teams sind die migran­ti­schen Wed­din­ger Mit­bür­ger offen­sicht­lich in Scha­ren zu ihrer Wahl­hei­mat über­ge­lau­fen. Auf der Mül­lerstra­ße begeg­nen mir mus­li­mi­sche Damen mit einer Deutsch­land­fah­ne als Kopf­tuch. Ich bin kurz irri­tiert, dann beschwingt.

3)
Es mag nur ein über­kom­me­ner Reflex sein, aber die­ses gan­ze Natio­nal­ge­tue geht mir auf die Ner­ven. Ich mag es ein­fach immer noch nicht, wenn Leu­te „Deutsch­land“ brül­len, sich Deutsch­land­fähn­chen ins Gesicht schmie­ren oder sich schwarz-rot-gol­de­ne Stirn­bän­der tra­gen. Sie sehen dann noch schlim­mer aus als ohne­hin schon. Ganz zu schwei­gen von die­sen Natio­nal­pu­scheln für die Auto-Rück­spie­gel. Ein­zig mit dem schwarz-rot-gol­den gerahm­ten Klo­pa­pier, das Ede­ka als „WM-Edi­ti­on“ auf den Markt geschmis­sen hat, kann ich mich anfreun­den. Deutsch­land geht mir ein­fach am Arsch vorbei.

4)
Noch doo­fer als die dumm­deut­schen Welt­meis­ter­schafts­fans fin­de ich die Welt­meis­ter­schafts­doo­fin­der. Egal, aus wel­chen Grün­den. Die ganz Kri­ti­schen, die dar­in nur ein Ablen­kungs­ma­nö­ver der Mäch­ti­gen wit­tern und damit gefähr­lich nah an schon wie­der einer gro­ßen Ver­schwö­rungs­theo­rie sind. Als müss­te man so etwas erfin­den, als woll­ten die Men­schen es nicht von selbst. Aber auch die Fuß­ball­pu­ris­ten, die ech­ten Fans. Die Fans, die auf die Event-Fuß­ball­gu­cker schimp­fen, die Alle-zwei-Jah­re-Fans, die sich dar­über empö­ren, dass das mit dem wirk­li­chen Fuß­ball­ge­fühl nichts zu tun habe. Das ist ein biss­chen so wie die Säu­fer, die ver­ächt­lich auf Leu­te gucken, die nur hin und wie­der mal ein Bier trin­ken. Oder ein Beck‘s Gold.

5)
Unter­wegs wäh­rend eines Deutsch­land­spiels. Ich bin eini­ger­ma­ßen erstaunt, als plötz­lich um mich her­um der Wed­ding explo­diert. Ver­dammt, noch 500 m bis zum Luft­schutz­bun­ker. Auf der ande­ren Sei­te der Schul­stra­ße, mir gegen­über, eine typi­sche Wed­din­ger Miets­ka­ser­ne, eher trist, mit klei­nen Bal­ko­nen mit gro­ßen Satel­li­ten­schüs­seln und noch grö­ße­ren Deutsch­land­fah­nen. Als der Pul­ver­dampf sich halb­wegs ver­zo­gen hat, tritt ein älte­rer Mann auf einen der Bal­ko­ne, im drit­ten Stock. Ein Mann, ein Fuß­ball­fan, ein Fuß­ball­fan­mann, wie man ihn beschrei­ben wür­de, wenn man eine sehr kli­schee­haf­te Beschrei­bung eines deut­schen Fuß­ball­fan­manns abge­ben woll­te. Ein Fuß­ball­fan­mann also, so um die 60, mit erheb­li­chem Bauch­um­fang, der ange­sichts des straff dar­über gespann­ten wei­ßen Dop­pel­ripp-Unter­hem­des gut zur Gel­tung kommt. Ein Fuß­ball­fan­mann mit einem Fuß­ball­fan-Deutsch­land­hut oben­drauf, so ein Som­mer­stoff­hüt­chen mit Deutsch­land­fah­nen­krem­pe. Ich sag­te ja schon: Ein Kli­schee von einem Deutsch­land-Fuß­ball­fan­mann. Und der also tritt auf den Bal­kon, nein, eigent­lich schrei­tet er mehr. Er schrei­tet auf sei­nen Bal­kon, bis zur Balus­tra­de, die hier natür­lich nur eine schnö­de Zement­wand ist, dann zieht er wür­de­voll eine schwarz-rot-gol­de­ne Vuvuz­ela her­vor, hält sie an den Mund wie ein höfi­scher Fan­fa­ren­blä­ser das Horn, dann bläst er drei Mal hin­ein, drei sehr exak­te, mit­tel­lan­ge, quä­ki­ge Vuvuz­ela-Töne, wie ein Tür­mer, der zur Mit­ter­nacht bläst, danach setzt er die Vuvuz­lea wie­der ab, blickt kurz wür­de­voll über sein Reich, die Schul­stra­ße. Dann schrei­tet er zurück in sei­ne Woh­nung, um sich wie­der in sei­nen Fern­seh­ses­sel zu bege­ben. Für mich der bezau­bernds­te Moment der WM.

6)
Viel­leicht aber ist die­ses Deutsch­land­ge­tue auch ein Segen. Wie ein Kom­men­ta­tor der „Welt“ säu­er­lich anmerkt: mit ech­tem Patrio­tis­mus habe das doch gar nichts zu tun, der gan­ze schwarz-rot-gül­de­ne Plun­der sei­en doch nur Par­ty-Acces­soires, und am kom­men­den 3. Okto­ber wür­de man bestimmt wie­der ganz ver­geb­lich dar­auf war­ten, dass Leu­te Flag­gen aus den Fens­tern hän­gen. Was mich einen kur­zen Moment stut­zen lässt, dann fällt mir wie­der ein, dass der 3. Okto­ber ja der Natio­nal­fei­er­tag ist. Da hat der Mann sicher Recht. Und wenn tat­säch­lich das gan­ze schwarz-rot-gol­de­ne Zeug nur Event­krem­pel ist, nur Kar­ne­vals­schmuck, wenn das Deutsch­land-Geru­fe über­haupt kei­nen ande­ren Sinn mehr hat als eben das Schwär­men für ein paar Kicker – ist das denn nicht das Bes­te, was pas­sie­ren kann mit dem gan­zen Natio­nal­sym­bolkrem­pel? Wenn bei der nächs­ten Staats­trau­er mit Halb­mast der Pöbel grü­belt: Oh, haben wir ein Fuß­ball­spiel ver­lo­ren? Ist denn schon wie­der WM? Wenn beim nächs­ten Gelöb­nis die Leu­te den­ken: Die haben aber komi­sche Tri­kots an dies­mal? Kein unan­ge­neh­mer Gedan­ke, eigentlich.


Vom 11.12. bis 10.1. des neu­en Jah­res prä­sen­tie­ren die Her­ren Paul Bokow­ski, Robert Res­cue, Vol­ker Sur­mann, Frank Sor­ge und Hei­ko Wer­ning außer­dem an über 20 Ter­mi­nen ihre tra­di­tio­nel­le Jah­res­bi­lanz “Auf Nim­mer­wie­der­se­hen 2014″ im Come­dy­club Kooka­bur­ra (Schön­hau­ser Allee 184). Schau­en Sie auch dort hin­ein und hel­fen den Wed­din­ger Vor­le­sern dabei, den Prenz­lau­er Berg zu “degen­tri­fi­zie­ren”.

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