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Nicht gekommen, um zu bleiben – eigentlich…

2. Januar 2014
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Der Wed­ding ist nur Pro­vi­so­ri­um, eine Durch­gangs­sta­ti­on auf mei­nem unauf­halt­sa­men Weg in die hip­pen Kieze Ber­lins. Das erzäh­le ich mei­nen Kum­pels. In Kreuz­berg, Mit­te und Fried­richs­hain waren nur lei­der die Woh­nun­gen zu mies oder zu teu­er. Also: zog ich in den Wed­ding. Und im ers­ten Monat nach mei­nem Umzug von Mün­chen hier­her, in die Turi­ner Stra­ße, füt­tert er mich tat­säch­lich mit reich­lich Argu­men­ten für eine bal­di­ge Flucht.

Gerichtstr BriefkastenIn mei­ner aller­ers­ten Woche, ich fah­re gera­de im Auf­zug mit mei­nem Rad ins Erd­ge­schoss und will zur Arbeit, hin­dert mich ein Poli­zist mit geho­be­ner Hand dar­an, das Haus zu ver­las­sen: “Einen Moment bit­te!”. Hin­ter ihm ren­nen fünf wei­te­re Poli­zis­ten mit Schutz­schil­dern und Pis­to­len im Anschlag die Trep­pe hoch. Danach weist er mich zur Tür hin­aus, ich soll verschwinden.

Am nächs­ten Tag tref­fe ich zufäl­lig unse­ren stets mür­ri­schen und ein­sil­bi­gen Haus­meis­ter und fra­ge nach. Ein Ban­di­do woh­ne im Haus, erzählt er mir. Die Poli­zis­ten sei­en schon zum drit­ten Mal gekom­men. Waf­fen und Dro­gen wür­den sie regel­mä­ßig bei ihm fin­den. Herz­lich will­kom­men im Wed­ding, den­ke ich mir.

Ein paar Tage spä­ter ent­de­cke ich mei­nen Nach­barn zur Rech­ten reg­los im Flur direkt vor sei­ner Woh­nungs­tür lie­gen. Ich stup­se ihn an, er röchelt. Er atmet zwar noch, aber mit dem, was er aus­stößt, hät­te er ein gan­zes Batail­lon alko­hol­ver­gif­ten kön­nen. Der Mann ist strunz­be­sof­fen, sei­ne Frau hat ihn aus­ge­sperrt. Ich sehe ihn heu­te hin und wie­der noch – immer­hin auf den Bei­nen, aber stets wan­kend und mit gla­si­gen Augen. Tol­le Nachbarn!

Zwei Wochen spä­ter wird bei mei­nen Nach­barn zur Lin­ken ein­ge­bro­chen. Ihre Woh­nungs­tür ver­rie­geln sie seit­dem mit zwei Schlössern.Was hält mich hier eigent­lich noch?

Nettelbeckplatz/ S-Bahnhof WeddingDas alles ist mitt­ler­wei­le zwei Jah­re her – und ich woh­ne immer noch im Wed­ding. Ich habe schon lan­ge kei­ne Wed­din­ger Grenz­erfah­run­gen mehr erlebt. Klar, es gibt sie immer noch rei­hen­wei­se, die­se typi­schen Mel­dun­gen aus dem Wed­ding: “Mann mit Axt und zwei Mes­sern von Poli­zei nie­der­ge­schos­sen” oder ganz frisch “Zwei Unbe­kann­te bewer­fen Bus mit Stei­nen”. Den­noch: Ich blei­be. Und mehr noch: Ich suche zwar immer noch nach einer neu­en Woh­nung – aller­dings jetzt gezielt im Wed­ding. Pro­vi­so­ri­um adé?!

Schö­ne­re, hip­pe­re, alter­na­ti­ve­re und/oder siche­re­re Ecken bie­ten viel­leicht ganz vie­le ande­re Kieze in Ber­lin. Der Wed­ding ist hier und da völ­lig aso­zi­al, häss­lich und grau. Wer hier wohnt, kennt aber auch die guten, schö­nen und mega­coo­len Sei­ten: die tür­ki­schen Märk­te, den neu­en Leo, den Spren­gel­kiez mit der ent­spannt-leben­di­gen Tege­ler Stra­ße und dem gedie­ge­nen Nord­ufer, Plöt­zen­see und Reh­ber­ge, die immer mehr wer­den­den klei­nen Bars, Knei­pen, Restau­rants und Cafés, Ate­liers und Galerien.

Haus Ecke Seestraße / Afrikanische Str.
Haus Ecke See­stra­ße / Afri­ka­ni­sche Str.

Viel­leicht ist der Wed­ding im Kom­men, aber bis er ankommt, stot­tert er gewal­tig. Gut so. Weil der Wed­ding eben zu einem gro­ßen Teil immer noch das ist, was ich in den ers­ten Wochen erlebt habe, bleibt er boden­stän­dig. Und irgend­wie verr­rückt normal.

Autor: Mar­kus Bauer

Gastautor

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3 Comments

  1. haha. der TIP brüllt seit min. 10 jah­ren jeden som­mer von sei­ner titel­sei­te daß der wed­ding dem­nächst “kommt”. wollt ihr die tota­le verprenzlauerBergisierung?

  2. Dan­ke für die­se Lie­bes­er­klä­rung an den Wedding.
    Ich bin hier im Kin­der­kran­ken­haus (damals in der Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße) gebo­ren und in der Mal­plaquetstr. auf­ge­wach­sen. Heu­te woh­ne ich in der Gro­nin­ger Str. Im lau­fe mei­nes 48jährigen Lebens habe ich vie­le Ver­än­de­run­gen des Wed­dings erlebt… beson­ders die Naza­reth­kirch­str und auch die Mal­plaquetstr. erschei­nen in den letz­ten Jah­ren im neu­en Kleid.…
    Ich mag den Wed­ding, er ist mei­ne Hei­mat – sei er wie er ist. Aber ist er nicht auch ehrlich?
    Grü­ße und ein gutes Neu­es Jahr von Susanne

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