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Urnenfriedhof Seestraße: Zeugnisse Weddinger Geschichte

22. April 2013
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Friedhof SeestraßeEin Besuch auf dem Fried­hof an der Kreu­zung Mül­ler- und See­stra­ße lässt einen Teil der Wed­din­ger Geschich­te leben­dig wer­den. Denn hier ruht u.a. die Bezirks­bür­ger­meis­te­rin Eri­ka Hess (1934−1986), auch die „Mut­ter vom Wed­ding“ genannt, weil sie immer ein offe­nes Ohr für die Sor­gen und Nöte der Men­schen hat­te. Auch der bekann­te Hei­mat­dich­ter Jon­ny Lie­se­gang (1897−1961) ist hier bei­gesetzt, in des­sen Büchern die Haus­meis­te­rin „Frau Nuschnpi­ckeln“ eine bedeu­ten­de Rol­le spielt.

Eine Straßenecke1884 beschrieb der Schrift­stel­ler und Jour­na­list Juli­us Roden­berg die­sen Teil der Mül­lerstra­ße so: „Von hier ab hören die Häu­ser fast ganz auf, und man hat zu bei­den Sei­ten die Land­schaft: zur Lin­ken das Grün und den dunk­len Wald­strei­fen der Jung­fern­hei­de, zur Rech­ten die Sand­hü­gel der Rei­ni­cken­dor­fer Gemar­kung. Hier sind nur noch Kirch­hö­fe; der nächs­te der Begräb­nis­platz der Cha­ri­té.“ So wur­de damals der Fried­hof See­stra­ße genannt, denn hier wur­den jene Ver­stor­be­nen beer­digt, die kei­ne Ange­hö­ri­gen mehr hat­ten, und deren Über­res­te zu Unter­richts­zwe­cken zur Ana­to­mie gelie­fert wor­den waren. Die Lei­chen “noto­risch ganz ver­kom­me­ner Per­so­nen, um die sich nie­mand küm­mert,“  zitier­te Roden­berg die ent­spre­chen­de preu­ßi­sche Ver­ord­nung aus dem Jahr 1718 und füg­te hin­zu: „Dop­pelt Unglück­li­che! Fremd, arm, ver­kom­men und ohne Familie!“

Feuerbestattung setzte sich durch

Denk­mal für die Opfer des 17. Juni und Ehren­grab Liesegang

Es war aber auch die Zeit, in der Rudolf Virch­ow die öffent­li­che Gesund­heit durch die „zuneh­men­de Anhäu­fung von Ver­we­sungs­stät­ten“ um die gro­ßen Städ­te her­um gefähr­det sah. Doch Ein­äsche­run­gen, die sich Rudolf Virch­ow vom Stand­punkt der öffent­li­chen Gesund­heits­pfle­ge wünsch­te, lie­ßen zunächst noch auf sich war­ten. Erst 1912 wur­de die Feu­er­be­stat­tung in Preu­ßen erlaubt und das Kre­ma­to­ri­um Wed­ding an der Gericht­stra­ße als größ­te Ver­bren­nungs­an­la­ge Euro­pas in Betrieb genom­men. Der Fried­hof See­stra­ße wur­de zum Urnenfriedhof.

An dem schlich­ten Ein­gangs­bau aus dem Jahr 1937 weist heu­te ein Schrift­zug auf den „Städ­ti­schen Urnen­fried­hof See­stra­ße“  hin. Hier ruhen in Ehren­grä­bern zahl­rei­che Wed­din­ger die auf Grund ihres Wider­stan­des gegen das NS-Regime ver­folg­te und ermor­det wor­den sind so u.a. Otto Schmir­gal, Albert Kay­ser, Max Urich und Otto Lemm.

Gedenkstätte zum 17. Juni 1953

Wer die ver­schie­de­nen Gedenk­stät­ten auf dem Fried­hof besucht, nimmt aber meist einen ande­ren Ein­gang, näm­lich den von der See­stra­ße auf Höhe der Mal­plaquet­stra­ße. Hier führt der Weg leicht anstei­gend zu einer gro­ßen Denk­mal­an­la­ge für elf Todes­op­fer des 17. Juni 1953, die wäh­rend des Ost-Ber­li­ner Auf­stan­des in West-Ber­li­ner Kran­ken­häu­sern behan­delt wur­den und dort star­ben. Auf dem Weg dort­hin, gleich hin­ter dem Ein­gang, über­sieht man schnell ein wei­te­res Sam­mel­grab:  nur die schlich­te Inschrift „Hier ruhen 295 Opfer der Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur“ auf einem Find­ling sowie drei Bron­ze­plat­te mit Namen ver­wei­sen auf eine ande­re Gedenk­stät­te. Um mehr zu erfah­ren, lohnt die Recher­che beim Volks­bund der Kriegs­grä­ber­für­sor­ge. Denn auf des­sen Web­site erfährt man, dass unter der Rasen­flä­che Urnen mit der Asche von Opfern des Mas­sen­mor­des an Behin­der­ten – auch Eutha­na­sie genannt – und KZ-Opfern begra­ben sind, die meist in den Jah­ren 1940 und 1941 in den “Anstal­ten” und Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern Hart­heim, Bern­burg, Gra­feneck, Son­nen­stein, Hada­mar-Mönch­berg, Dach­au und Buchen­wald zu Tode kamen. Dar­über hin­aus sind hier Opfer aus den Zucht­häu­sern Plöt­zen­see und Bran­den­burg bei­gesetzt – dar­un­ter 18 Regime­geg­ner, die am 12. und 13. Juli 1943 in Plöt­zen­see  hin­ge­rich­tet wur­den, und 39 unbe­kann­te Frau­en, die man nach der Zer­stö­rung des berüch­tig­ten Frau­en­ge­fäng­nis­ses in der Bes­se­mer­stra­ße am 24. August 1943 tot auffand.

Das Denk­mal für die „Opfer des 17. Juni“ wur­de vor eini­ger Zeit durch eine zusätz­li­che gro­ße, gut sicht­ba­re Tafel mit his­to­ri­schen Infor­ma­tio­nen ergänzt. Dass dem­ge­gen­über jeg­li­cher Hin­weis auf 295 Toten aus der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus, auf Ort und Hin­ter­grund ihrer Ermor­dung fehlt, das ist eben auch ein Teil der Wed­din­ger Geschichte.

Autor: Eber­hard Elfert

Gastautor

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3 Comments

  1. Der Urnen­fried­hof See­stra­ße wird nun zur Hälf­te ein mus­li­scher Friedhof,aber nie­mand fragt,was mit den Urnen­grä­bern wird,die sich noch auf die­ser Hälf­te befinden.Sie wer­den ent­we­der ent­sorgt oder wenn man es recht­zei­tig erfah­ren hat,dann kann man sei­ne Ange­hö­ri­gen noch zur ande­ren Hälfte,zur Mül­lerstra­ßen Seite
    Umtop­fen lassen.Das hört sich schreck­lich an und ist es auch,aber genau­so läuft es dort zur Zeit.

  2. Auf die­sem Fried­hof herr­schen unhalt­ba­re Zustän­de ! Es wird auf Grä­ber geschis­sen und dau­ernd lun­gern dort Pen­ner und Dea­ler her­um!!!! Wenn es nicht so unver­schämt teu­er wäre, wür­den wir unse­re Ange­hö­ri­ge umset­zen las­sen. Die Anla­ge ist unge­pflegt, der Was­ser­brun­nen funk­tio­niert seit ca. einem Jahr nicht mehr . Trau­rig, das einem das vie­le Geld aus der Tasche gezo­gen wird und dafür abso­lut Null Leis­tung erbracht wird !!!!!

  3. “Dass dem­ge­gen­über jeg­li­cher Hin­weis auf 295 Toten aus der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus, auf Ort und Hin­ter­grund ihrer Ermor­dung fehlt, das ist eben auch ein Teil der Wed­din­ger Geschichte.”

    das ist kein teil der wed­din­ger geschich­te son­dern schlicht und ergrei­fend ein skandal!!!

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